04.05.2021

Mystic Pines – mystische Wälder

Text: Vincent McLean, übersetzt aus dem Englischen von Anne Dohrmann
Fotos: Vincent McLean, Trey Schlichting und Liz Velichko

 

Allein der Name zeichnet Bilder von Abenteuern vor meinem inneren Auge, während ich der Straße in die Berge von New Mexico folge. Sie führte mich bereits vorbei an der Wüstenstadt Las Vegas, doch nun bin ich schon lange fern jeglicher Zivilisation und tauche immer tiefer ein in die Wildnis. Was ich in dieser Einsamkeit zu finden hoffe, ist ein Trainingskomplex der „World Horseback Archery Federation (WHAF)“ für das berittene Bogenschießen. Ich habe schon viele aufregende Geschichten von diesem Ort gehört und kann es kaum erwarten, ihn endlich selbst zu erkunden.

Doch ich bin nicht der einzige Besucher, denn an diesem Wochenende findet hier ein privater Wettkampf statt. Eine sorgfältig limitierte Anzahl an Teilnehmern ist bereits vor Ort und bereitet sich auf die Veranstaltung vor. Es herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Wegen der Pandemie waren Events dieser Art lange kaum möglich. Die Freude und Erleichterung der Bogenschützen, nun endlich wieder aktiv sein zu können, ist offensichtlich. Respektvoll halten sie Abstand und achten auf Sicherheit für sich und ihre Mitmenschen.

Voller Konzentration galoppieren die SportlerInnen die Wettkampfbahnen entlang und schießen blitzschnell ihre Pfeile auf die zahlreichen Ziele. Ich hingegen schieße nur Bilder und genieße die eindrucksvolle Szenerie.

Hunter Matthews, 21, aus Mora (New Mexiko) wird stolzer Sieger in der Gesamtwertung. Erst seit weniger als sechs Monaten reitet und schießt er unter der Anleitung von Trey Schlichting, dem Eigentümer von Mystic Pines.

Das Abenteuer endet jedoch nicht mit dem Wettkampf! Unser Gastgeber Trey lädt uns auf eine Wanderung in die Berge ein, um dort auf originelle Ziele wie aufgehängte Milchkanister zu schießen. Außerdem zeigt er uns den Gong-Pfad: Hier schießt man mit Metallspitzen auf bronzene Klangscheiben, die zwischen den Bäumen baumeln und bei einem Treffer ein genüssliches Klingeln durch den Wald schallen lassen.

Trotz der Freude an dieser Bogenschießeinheit der besonderen Art müssen wir uns häufig Pausen zugestehen. Unsere Muskeln sind die Bedingungen von 2.900 Höhenmetern nicht gewohnt, und der Aufstieg ist anstrengend und langsam. Ich bin etwas ernüchtert, in meiner Vorstellung hatte ich noch eine ganz ansehnliche Kondition. Keuchend frage ich Trey, ob diese Höhe auch einen Effekt auf Pferde hat.

„Pferde, die zum ersten Mal in diese hohe Lage gebracht werden, können sich innerhalb von drei bis vier Tagen daran anpassen. Als Beutetiere haben sie die Fähigkeit, große Mengen von roten Blutzellen, die in der Milz gespeichert sind, bei Belastung in den Kreislauf zu entlassen. Das ist zum Beispiel bei niedrigen Sauerstoffkonzentrationen oder bei körperlicher Arbeit der Fall. Durch Training oder den Aufenthalt in hohen Gegenden kann dieser Effekt sogar noch verstärkt werden. Im Normalfall sind die Pferde, die für das berittene Bogenschießen genutzt werden, Athleten und in bester Kondition. Deswegen können sie sich in wenigen Tagen an die Höhe gewöhnen, wohingegen wir Menschen dafür einige Wochen oder bis zu einem Jahr brauchen“, antwortet er.

Eine der Glücklichen, die während des Lockdowns in „Mystic Pines“ trainieren konnte, ist Sarah Velilchko. Sie war als Garderoben-Managerin mit dem berühmten Musical „Hamilton“ auf Tour, bevor die Pandemie das kulturelle Leben lähmte. Jetzt, da sie sich bestens auf dem Gelände auskennt, führt sie mich durch tiefe Schluchten zu einem spektakulären Jagd-Trail. Über zwanzig lebensgroße 3D-Tiere aus Gummi verschmelzen mit den dunklen Schatten der thronenden Nadelbäume. Als wir auf dem Pfad entlang schleichen, den Bogen immer griffbereit, stoßen wir schließlich auf mein neues Lieblingsziel: Ein 3D-Eber ist mit einer Drahtkonstruktion zwischen den Bäumen aufgehängt. Bei Betätigung eines Hebels saust er den Hang hinab, so dass man meinen könnte, er würde tatsächlich rennen. Intuition und Geschwindigkeit sind nötig, um dieses Ziel zu treffen, und machen es zu einer spannenden Herausforderung.

„Meine Zeit hier in Mystic Pines war eine echte Erholung für die Seele“, strahlt meine Führerin Sarah, während sie sicher ihre Pfeile in den Zielen versenkt. Besonders fasziniert ist sie von der Kombination von Bogenschießen und Reiten. „Das Gefühl, über eine weite Ebene zu galoppieren, mit dem Bogen in der Hand, inmitten von atemberaubender Landschaft und umgeben von gleichgesinnten Freunden, ist einfach unvergleichbar.“

Schon von Ferne weht uns der köstliche Duft von frischer New-Mexiko-Küche entgegen, als wir zurück zur Farm laufen. Clebert Garcia aus Albuquerque, NM, hat einen waschechten Cowboy-style Leckerbissen für uns vorbereitet: mexikanischen Eintopf mit würzigen Teigtaschen. Während wir zusammen das köstliche Abendessen genießen, tauschen wir angeregt teils spannende, teils witzige Geschichten und auch tiefere Gedanken über das berittene Bogenschießen und „Mystic Pines“ aus.

Clebert Garcia, unser fantastischer Koch, arbeitet als Stunt-Reiter in Filmen und ist außerdem Darsteller bei großen „Old West“ oder „Civil War“-Inszenierungen. Erst seit zwei Jahren macht er auch berittenes Bogenschießen. Bemerkenswert ist dabei, dass er all dies trotz einer Autoimmunerkrankung, bei der der Körper seine eigenen Gelenke attackiert, bewältigt. „Ich lebe mit ständigem Schmerz in allen meinen Gelenken. Jede einzelne meiner Bandscheiben ist degeneriert. Darum hat es für mich die größte Priorität, aktiv zu bleiben. Das berittene Bogenschießen hilft mir dabei sehr. Man muss einen kühlen Kopf bewahren, ruhig bleiben, mit dem Körper ständig wachsam, aber auch entspannt sein. Der dadurch eintretende Zen-Effekt lässt mich den Schmerz für eine Weile vergessen. Ich spreche normalerweise nicht über so persönliche Dinge. Aber ich tue es gerne, wenn ich dadurch jemanden dazu ermutigen kann, einen Sport auszuprobieren, auch wenn er die eigenen physischen Fähigkeiten zu übersteigen scheint. Einfach mal versuchen, es könnte eine echte Überraschung werden!“

Die jüngste Teilnehmerin, Annabelle (12), ist zum ersten Mal bei einem Turnier dabei. Ihre Mutter nahm mit ihr schon mehrfach den weiten Weg aus Austin, Texas, bis nach „Mystic Pines“ auf sich. Jede Fahrt dauert mehr als 13 Stunden. Annabelle erzählt mir: „Mystic Pines ist mein Lieblingsort – hier bin ich glücklich! Es ist eine perfekte Kombination von Schönheit, Freundschaft, Spaß, und natürlich dem unglaublich wertvollen Training, das mich jedes Mal an meine Grenzen bringt.“

Isabella Baratti (16) aus San Diego, Kalifornien, trainiert mit Trey Schlichting seit nun fast vier Jahren. Den letzten Monat hat sie komplett auf seiner Farm verbracht. „Trey ist ein großartiger Mentor für Isabella. Sie hat so viele tolle Erinnerungen gesammelt, bei der Arbeit auf der Ranch, beim Training und mit ihren Freunden hier. Sie kann die nächsten Ferien kaum erwarten, um wieder zurückkommen zu können“, erzählt mir ihre Mutter Junie.

Treys Schülerin Gracie Allee Ledoux begann mit 14 Jahren, berittenes Bogenschießen zu trainieren. Dank ihres Talents und vor allem ihrer Entschlossenheit und Leidenschaft für den Sport hat sie schnell ein hohes Können erreicht. Heute ist sie 18 Jahre alt und gibt selbst Kurse und Unterricht im berittenen Bogenschießen. Als ich sie zu ihrem Eindruck von der Farm frage, antwortet sie: „Mystic Pines ist mein Zuhause. Ich verbinde damit meine wunderbaren Freunde, Pferde und die großartige Aussicht von den Bergen mit dem Duft des Waldes.“

Trey Schlichting, der Gründer von „Mystic Pines“, ist ein Quell der Weisheit bezüglich des modernen Sports und des historischen Hintergrunds des berittenen Bogenschießens. Auf meinen internationalen Reisen für das berittene Bogenschießen habe ich ihn schon mehrfach getroffen. Auf die Frage hin, warum er sich entschied, an genau diesem Ort hier sesshaft zu werden, meint er: „Hier in Mystic Pines werden meine Träume wahr. Es gibt hier so eine magische, heilsame Atmosphäre, wegen der schneebedeckten Berge und der Wälder. Hier kann ich reiten, schießen und diese Leidenschaft mit Sportlern aus der ganzen Welt teilen.“

Gelächter und Scherze begleiten den Abend, während Kristin, Treys bezaubernde Ehefrau, uns ein altes koreanisches Spiel namens „Yut Nori“ beibringt. Es lebt von einer gewieften Kombination von Strategie, Glück und Heuchlerei. Nach diesem intensiven Tag voller Bogenschießen, zu Pferd und zu Fuß, und angeregten Diskussionen ist dieser spielerische Wettstreit genau das richtige, um den Abend fröhlich ausklingen zu lassen.

Der nächste Morgen ist noch ganz frisch, als ich mein Equipment zurück ins Auto packe. Nachdem ich mich mit allen guten Wünschen verabschiedet habe, nehme mir nun einen Augenblick, um die Aussicht auf mich wirken zu lassen. Die schneebedeckten Berge auf der anderen Seite des Tals glitzern im Licht der ersten Sonnenstrahlen. Ich atme tief ein, und trotz der kristallkalten Luft erfüllt mich ein warmes Gefühl der Ruhe.

Es war eine Ehre, in dieses bezaubernde Tal kommen zu können und teilzuhaben an der starken Gemeinschaft von Bogenschützen und ihren Sorgen, Leidenschaften und Träumen. Durch ihre wunderbare Gastfreundschaft ist dieses Erlebnis unvergesslich geworden.

„Mystic Pines“ wird in Zukunft auch Airbnb sowie Zeltplätze anbieten. Für 2021 sind außerdem Trainingseinheiten im Bogenschießen und berittener Kampfkunst für interessierte Gäste geplant. Langfristig soll hier eine Ausbildungsstätte für berittene BogenschützInnen, SchauspielerInnen und Stunt ReiterInnen entstehen.

INFO: Der Wettkampf besteht aus vier verschiedenen Disziplinen

  • die „Texanische Jagd“: der Reiter muss sein Pferd selbstständig zu den Zielen lenken, es gibt keine Absperrungen, die ihm dabei helfen. Er darf die Reihenfolge, in denen er die Ziele schießen will, selber bestimmen, aber muss innerhalb des Zeitlimits wieder zurück am Startpunkt sein.
  • der „Australische Wettkampf“: Diese Disziplin wurde speziell für Anfänger entwickelt. Zwei Scheiben zeigen entlang einer geraden Strecke in entgegengesetzte Richtungen und bilden so einen Vorwärts- und einen Rückwärtsschuss. Der Reiter darf hier das Tempo selbst entscheiden und bekommt in jedem Fall seine Schusspunkte angerechnet. Das Ziel dieser Disziplin ist es, Treffsicherheit vor Geschwindigkeit zu würdigen.
  • ein schwieriger Gelände-Parcours
  • ein klassischer ungarischer Wettkampf mit seiner fast meditativen Kontinuität. Neun Läufe auf einer geraden Bahn mit einem einzigen Scheibenturm als Ziel machen diese Disziplin zu einer Herausforderung für Fokus und Ausdauer.