11.09.2023

eSports – ein Streitthema?

Manche Themen polarisieren, laden förmlich dazu ein, sich kritisch mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen. Und das ist auch gut so, denn gerade in der konstruktiven Diskussion kommen Argumente zum Vorschein, die man ursprünglich vielleicht nicht auf dem Schirm hatte. Die Sinnhaftigkeit der Olympic Esports Series, zu der das Internationale Olympische Komitee zuletzt nach Singapur eingeladen hatte, gehört sicherlich zu den Themen, über die man trefflich streiten kann.

Zur Info: Es handelt sich um eine Veranstaltung, bei der Athletinnen und Athleten in verschiedenen Disziplinen, unter anderem auch im Bogensport, mit Hilfe von entsprechenden Spielekonsolen virtuell gegeneinander antreten. Immerhin sind 130 Spieler*innen und rund 20.000 Fans diesem Aufruf gefolgt, was sicherlich darauf schließen lässt, dass das IOC die Zeichen der Zeit erkannt und einen Trend für sich genutzt hat. Andererseits sehen Fachleute im exzessiven Zocken auch eine Ursache für etliche Probleme, mit denen insbesondere Kinder und Jugendliche im Alltag zu kämpfen haben. Darf das IOC einfach darüber hinwegsehen? BSM-Autor Günter Kuhr hat seine Meinung dazu klar formuliert. Teilen Sie seine Kritik oder stehen für Sie andere Aspekte im Vordergrund? Lassen Sie uns wissen, was Sie von der Olympic Esports Series halten und schreiben Sie uns – am besten per E-Mail.

(Bild: Symbolbild Karolina Grabowska / pexels.com)


Kommentar zur Esport Series

Für einen Aprilscherz war das Jahr zu weit vorangeschritten, und der vom IOC proklamierte Meilenstein war zumindest beim digitalen Bogenschießen weit entfernt vom Ziel platziert. Die hohen Ansprüche an die koordinativen Fähigkeiten des physischen Bogenschießens wurden den Teilnehmern der Olympic Esport Series 2023 nicht abverlangt, stattdessen bewegten sie ihren Finger über die Glasscheibe eines Smartphones. Ich stellte mir die Frage, ob ich Zeit damit verbringen sollte, einen Beitrag über dieses Event zu schreiben. Doch letztlich gibt es dafür gute Gründe. Wenn das IOC dem Trend des Esports folgt, sollte man genauer hinschauen, was sich da entwickelt.

Die World Archery trat bereits im August 2020 der Global Esport Federation bei, einer in Singapur ansässigen Organisation, die Ende 2019 von dem chinesischen Multimedia Unternehmen Tencent gegründet wurde und finanzstarke Partner im Hintergrund hat. Die World Archery erklärte in einer Pressemitteilung, dass sie elektronische und ferngesteuerte Wettkämpfe erforscht hat, insbesondere während der COVID-19-Pandemie. Der Weltverband des Bogensports möchte die Mitgliedschaft in der Global Esports Federation nutzen, um weitere Möglichkeiten für den Sport im Videospielbereich zu untersuchen. Der Esport ist auf dem Vormarsch und fasziniert insbesondere Kinder und Jugendliche, die am Smartphone und der Spielekonsole viele Stunden am Tag trainieren müssen, wenn sie Erfolge auf den Wettkämpfen erreichen wollen.

Ich wage mal einen provokanten Blick in den Tagesablauf eines Kindes, das im Esport Erfolge einfahren möchte. Nach dem Stillsitzen des Kindes in der Schule folgt das Esport-Training im Kinderzimmer, bei dem kognitive Leistungen auf das Reagieren heruntergefahren werden. Anschließend werden vielleicht noch Social Media-Kontakte gepflegt. Bei den Hausaufgaben wird das Denken ausgelagert an die KI ChatGPT (die künstliche Intelligenz erledigt viele Hausaufgaben zuverlässig und schnell), und so bleibt für den Ausklang des Tages noch eine Netflix-Serie oder eine kleine Trainingseinheit im Esport vor dem Schlafengehen.

Vielleicht ist dieser Tagesablauf überspitzt dargestellt, doch als Trainer sehe ich Kinder beim Einsteigertraining im Bogenschießen, deren koordinative Fähigkeiten zum Teil so stark beeinträchtigt sind, dass ich Mitleid bekomme. Diese Entwicklung des Rückgangs von koordinativen Fähigkeiten beobachten seit Jahren Trainer und Sportlehrer. Koordination entwickelt sich nur bei koordinativen Anforderungen, keineswegs beim Bewegen eines Fingers über die Glasscheibe des Smartphones oder am Joystick der Spielekonsole.

Von Kindeswohlgefährdung spricht der Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer. Während jeder Stunde, die ein Kind mit digitalen Medien verbringt, können sich koordinative Fähigkeiten nicht ausbilden, und die kognitiven Fähigkeiten, die wie bei einem Muskel trainiert werden müssen, werden auf das Reagieren reduziert. Spitzer, der als ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm arbeitet, sieht zudem einen Zusammenhang zwischen dem übermäßigen Konsum von digitalen Medien und der explosionsartigen Entwicklung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen. Das beschrieb der Neurowissenschaftler schon 2015 in seinem Spiegel-Bestseller „Digitale Demenz – Wie wir unsere Kinder um den Verstand bringen“.

„Gesund zocken will gelernt sein“, schreibt die Bergische Krankenkasse auf ihrer Website. Sie ist offizieller Gesundheitspartner der Akademie des eSport-Bundes Deutschland und gibt auf ihrer Website www.bergische-krankenkasse.de Antworten auf die Fragen: Ist Gaming gut oder schlecht für mein Kind? Welche positiven Seiten hat das Zocken? Was sind eSports? Zusammengefasst sucht die Krankenkasse nach Kompromissen und empfiehlt den Eltern eine zeitliche Begrenzung für elektronische Spiele und den eSport, Absprachen, Augenmaß und Alternativen, damit Zeit für die Entwicklung anderer Fähigkeiten bleibt. Doch es bleibt dabei: Wenn Kinder im Esport erfolgreich sein wollen, werden sie in der Praxis viele Stunden trainieren müssen. Letztlich bin ich ein Verfechter der Freiheit und der Selbstverantwortung, so dass jeder Mensch über seine Freizeitgestaltung entscheiden soll – und Eltern übernehmen die Verantwortung für ihre Kinder.

Das Prinzip von Ursache und Wirkung wird allerdings niemand aushebeln können. Von den Sportverbänden wünsche ich mir Verantwortung bei der Entwicklung von Sportprogrammen, insbesondere wenn diese Angebote im besonderen Maße Kinder und Jugendliche ansprechen. Immer dann sollten diese Sportprogramme die kindliche Entwicklung fördern. Dazu zählt die Entwicklung von koordinativen und kognitiven Fähigkeiten, damit Kinder fit gemacht werden für das Leben in der realen Welt.

Für mich persönlich ist nun aber die Zeit gekommen, mich vom Esport abzuwenden und den Rest des Tages am Bogensportplatz in der Natur zu verbringen, dort wo die Sonne lacht, die Blätter an den Bäumen den einfallenden Wind ankündigen, dort wo ich liebenswerte Menschen im realen Leben begegne.

GÜNTER KUHR