18.07.2022

„Der Krieg ist allgegenwärtig“

Von Stefan Kech

Nach dem Überfall Russlands auf ihr Land war Dauchingen im Schwarzwald-Baar-Kreis ein Ort der Sicherheit für die ukrainische Nationalmannschaft im Bogenschießen. Nun wird ein Teil der Sportler zurückbeordert.

Die Bilder nehmen kein Ende. Jeder Tag fördert neue Horrornachrichten über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zutage. Dieser Schrecken lässt niemanden unberührt, der auch nur über einen Hauch von Empathie verfügt. Das Leiden der Menschen in diesem überfallenen Land scheint immer unfassbarere Dimensionen anzunehmen und lässt sich aus der Distanz nur erahnen.

Diese Distanz hat die ukrainische Nationalmannschaft nicht, die nun seit mehr als drei Monaten in Dauchingen ein Refugium gefunden hat. „Schauen sie hier“, sagt einer der Bogenschützen und hält einem sein Handy hin, nachdem er zuvor im Internet eine der vielen Quellen angeklickt hat. Es sind furchtbare Aufnahmen zu sehen, und sie könnten nicht aktueller sein. Gerade hat Russlands Artillerie erneut ein ziviles Ziel beschossen, die Meldungen werden am Donnerstag die Nachrichten über den Krieg bestimmen.

In der Stadt Winnyzja sollen bei Angriffen mindestens 23 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt worden sein, als dort im Zentrum ein Bürogebäude getroffen wurde. Die Stadt liegt im Westen des Landes und damit mehrere hundert Kilometer von der eigentlichen Frontlinie entfernt. Nicht nur Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach einmal mehr von einem „offenen Akt des Terrorismus“ durch die russische Armee.

Der junge Mann steckt sein Handy wieder in die Tasche, seine Augen blicken rat- und fassungslos in die Ferne. Und eines wird dabei deutlich: Die Sportler und Sportlerinnen, der Betreuerstab und die Familienangehörigen sind in Dauchingen zwar geografisch weit von diesen Gräueln entfernt, doch emotional mittendrin.

Nun wird diese räumliche Distanz ebenfalls schon bald der Vergangenheit angehören – zumindest für einen Teil von ihnen. Denn als Sportsoldaten haben sie den Einberufungsbescheid erhalten und müssen bis spätestens zum 31. Juli in die Ukraine zurückkehren.

Auch wenn mit einem solchen Beschluss zu rechnen war, ist dies für alle ein einschneidendes Ereignis. Auch für Andreas Lorenz. In den vergangenen Wochen war er Organisator, Ansprechpartner, Möglichmacher – ja man könnte ihn fast schon als eine Art „Herbergsvater“ bezeichnen. Die Firma Beiter, deren Verkaufsleiter er ist, bot den Sportlern ideale Bedingungen, um weit ab der Heimat trainieren und sich auf die Wettkämpfe vorbereiten zu können.

Herr Lorenz, seit unserem letzten Treffen sind schon wieder einige Wochen vergangen, was hat sich in dieser Zeit getan? Andreas Lorenz: Aus rein sportlicher Sicht gab es zwei Großereignisse, zum einen die Europameisterschaft in München und dann noch den Weltcup in Paris.

Und an beiden Wettkämpfen nahm das ukrainische Team teil? Ja. Die Männer verpassten mit Platz vier bei der EM die Medaillen nur hauchdünn. Auch das Mixed-Team wurde Vierter. Die Frauen landeten nicht so weit vorn, allerdings zeigte sich, dass die Sportler ihr Niveau halten konnten.

Dank der Trainingsmöglichkeiten, die Sie und die Firma Beiter der ukrainischen Mannschat in den vergangenen Monaten geboten haben. Doch damit wird nun wohl Schluss sein . . .  Ja, Bis zum 31. Juli müssen sich die Männer beim Sportministerium in der Ukraine gemeldet haben.

Das heißt, sie müssen Deutschland verlassen? So ist es. Sie sind Sportsoldaten, und Präsident Selenskyj plant, insgesamt 300 000 Personen einzuberufen. Und da die Saison im Bogensport vorbei ist, befinden sich die Schützen also nicht mehr in der Rolle des Sportbotschafters für ihr Land.

Müssen nur die Männer gehen? Ja, die Frauen hatten teilweise die Wahl, weil sie nicht direkt beim Militär, sondern in anderen Einrichtungen wie beispielsweise dem Grenzschutz angestellt sind. Aber von fünf Frauen werden vier in die Ukraine zurückkehren.

Warum? Neben dem Pflichtgefühl und der großen Verbundenheit zum eigenen Land sind es auch persönliche Gründe, die sie dazu veranlassen. Wenn sie hier bleiben, wissen sie nicht, ob sie ihre Männer noch einmal wiedersehen. In der Ukraine dürfen diese immerhin nach einer gewissen Dienstzeit in den Heimaturlaub. Eine Schützin kehrt mit ihrem vierjährigen Kind zurück, damit es endlich einmal wieder seinen Vater sieht. Und es leben eben auch alle Freunde und vielen Verwandten dort.

Wie viele kehren in die Ukraine zurück? Von den 25 Personen werden 14 gehen.

Wer bleibt? Eben all jene, die nicht Teil des Militärs sind, darunter eine Familie mit ihren zwei Kindern sowie Opa und Oma. Polina Rodionova bleibt als einzige Schützin hier, sie wird übrigens künftig in der Bundesliga für den Bogenclub VS an den Start gehen – als Welt- und Europameisterin. Polina kam mit ihrer Mutter, der Kampfrichterin Natalia Radionova, im Auto über Polen nach Dauchingen und erlebte die Kämpfe im Osten hautnah.

Kein Wunder, dass sie bei der aktuellen Lage hier bleiben will. Es gibt da tatsächlich einen Zusammenhang: Wer im Osten der Ukraine lebte und die Auswirkungen des Krieges mit eigenen Augen gesehen hat, der bleibt. All jene, die im Westen des Landes beheimatet sind, gehen zurück. Dort ist noch ein, wenngleich unter Einschränkungen, weitgehend normales Leben möglich. Im September sind hier sogar ukrainische Meisterschaften im Bogenschießen geplant.

Wie ist die Stimmung angesichts dieser neuen Situation? Es ist schon zu spüren, dass viele schweren Herzens gehen. Nach anfänglichem Zögern hatten sie sich doch mit dem Gedanken angefreundet, längerfristig hierzubleiben. Sie haben sich gut integriert und wurden ebenso gut von den Dauchingern aufgenommen.

Die Ukrainer blieben also nicht immer nur unter sich? Nein, wir haben viele schöne Momente gemeinsam erlebt. Bei einem Grillabend sah man, wie alle das Elend in der Heimat zumindest für einen kurzen Moment vergessen konnten. Beim Nationalfeiertag im Mai zogen sie sogar ihre Trachten an. Auch bei der Kulturnacht in Schwenningen waren sie auf Einladung des Lions Club Schwenningen dabei. Aber die Sehnsucht und Sorge nach und um die Heimat blieb und bleibt allgegenwärtig.

Woran machen Sie das fest? Sie alle sind ständig in den sozialen Medien und stehen mit Freunden und Verwandten in der Ukraine in Kontakt. Der Krieg ist allgegenwärtig.

Wie ist Ihre Gefühlslage, wenn nun ein Teil der ukrainischen Bogensportfamilie wieder geht? Wir sind tatsächlich wie eine Familie, ich kenne einige schon seit vielen Jahren, und die Kontakte werden bestehen bleiben. Es ist schon Wehmut dabei, aber ebenso ein gewisser Grad an Erleichterung, denn die zeitliche Beanspruchung war enorm.

Wurden Sie bei der Entscheidung, zu gehen oder hier zu bleiben, um Rat gefragt? Nein, und ich hätte auch keinen gegeben. Diese Verantwortung hätte ich niemals auf mich nehmen wollen. Stellen Sie sich vor, ich hätte zu einem der Schützen gesagt, du musst in die Ukraine zurück und dann vier Monate später von seinem Tod erfahren. Und wenn ich ihm geraten hätte, als Sportsoldat in Deutschland zu bleiben, wäre ihm als Deserteur die Rückkehr in sein Land nicht mehr möglich gewesen. Diese schwere Entscheidung muss jeder für sich treffen.

Wie geht es für die Menschen weiter, die bleiben? Sie wollen sich integrieren und so schnell wie möglich so selbständig wie möglich leben. Der Weg dahin führt nur über die Sprache, und so wird der Lions Club weiterhin die Sprachkurse finanzieren. Die sieben und 14 Jahre alten Kinder jener Familie, die hier bleibt, sind bereits für das kommende Schuljahr angemeldet.

Wie sieht es auf beruflicher Ebene aus? Die Menschen wollen hier arbeiten, das gehört für sie auch zum Selbstwertgefühl. Sie schätzen die Möglichkeiten, die Deutschland ihnen bietet. Eine Frau hat bereits einen 450-Euro- Job angenommen. Selbst wenn ihr dieser Verdienst auf die Unterstützung angerechnet wird und am Ende nur wenig davon im Geldbeutel bleibt. Darin sehe ich generell ein Problem, nicht nur bei den Flüchtlingen aus der Ukraine oder aus anderen Ländern. Der Anreiz, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen, ist angesichts der staatlichen Alimentierung oftmals nicht allzu ausgeprägt.

Glauben Sie, dass manch einer für immer in Deutschland bleibt? Eher nicht. Ich gehe davon aus, dass nach dem Ende des Krieges alle wieder in die Ukraine wollen. Dort können sie in ihren erlernten Berufen arbeiten und beim Wiederaufbau mithelfen.

Wird es eine offiziellen Abschied geben? Die Dankbarkeit der Schützen ist sehr groß. Daher wollen sie etwas Dauerhaftes in Dauchingen hinterlassen. Mehr möchte ich nicht verraten.

Ein Artikel aus der Südwest Presse / Die Neckarquelle Villingen-Schwenningen vom 16. Juli 2022