The new kings are crowned!

Bogensportler feiern die 10. Auflage der Kings of Archery Series (JVD Open)
Von Anna Lena Gangluff (Fotos: Dean Alberga)
Leseprobe aus dem BOGENSPORT MAGAZIN 1/2023


Nachdem in der Außensaison in diesem Jahr wieder langsam aber sicher die gewohnte Normalität die Turniere bestimmte, kehrte auch nach zwei Jahren Zwangspause das international beliebte Kings of Archery Series – JVD Open Turnier – in den Niederladen zurück. Vom 11. bis zum 13. November 2022 fand das größte Hallenturnier der Niederlande in Eindhoven statt.

Bereits 2020 sollte die zehnte Ausgabe des Hallenturniers stattfinden. Wegen der Pandemie musste das Ganze aber sowohl 2020 als auch 2021 verschoben werden. Umso größer war die Freude, als bekannt wurde, dass das Turnier 2022 wieder ausgerichtet werden kann.
Von Jahr zu Jahr wuchs das Turnier und begeisterte immer mehr Bogensportler. Das Erfolgsrezept? Das Format. An der Schießlinie trifft man sowohl auf internationale Spitzensportler wie Mike Schloesser (NED), Kris Schaff (USA) oder Penny Healey (GBR), die bereits während der Außensaison immer wieder mit starken Leistungen auf sich aufmerksam machten. Genau so kann aber auch der „normale“ Breitensportler einen der begehrten Startplätze für das Turnier ergattern. Wann hat man schon die Chance, bei einem internationalen Preisgeldturnier die Besten der Bogensportszene zu sehen, mit ihnen zu sprechen oder gar mit ihnen auf einer Scheibe zu stehen? Solche Erfahrungen will sich niemand entgehen lassen. Gerade für deutsche Schützen kommt noch hinzu, dass sie den Austragungsort in den Niederladen recht schnell und unkompliziert erreichen können.
Auch in den sozialen Netzwerken wird das Format gefeiert. „Das beste Turnier in Europa“ liest man täglich. Für viele Bogenschützen ist Kings of Archery seit Jahren fester Bestandteil in ihren Terminkalendern. Die meisten von ihnen haben die Entwicklung von einem kleinen freundschaftlichen Turnier bis zu dem großen gefeierten Event, das es heute ist, hautnah miterlebt. Trotz des Wachstums haben es die Veranstalter geschafft, diese gewisse Atmosphäre beizubehalten. Für viele ist es eher ein Wiedersehen mit guten Freunden, und der Leistungsdruck nimmt nicht unbedingt überhand.


SIDEFACT:  Wusstet ihr, worüber sich den meisten Teilnehmern den Kopf zerbrechen? Den Walk Up Song. Wer sich bei dem Turnier anmeldet, muss bei der Anmeldung einen Walk Up Song benennen, der gespielt wird, falls der entsprechende Starter in das Finale einzieht. Sander Doldermann ruft aber auch hier scherzend zu mehr Kreativität auf: „Jedes Jahr gibt es so viele Schützen, die „Thunderstruck“ von AC/DC wollen. Überlegt euch mal etwas Ausgefalleneres!“ Wer also nächstes Jahr dabei sein will, sollte dieses Detail nicht unterschätzen und früh genug mit der Suche nach dem Song anfangen.


Umso weniger verwundert es, dass über 900 Startplätze in diesem Jahr innerhalb weniger Stunden ausgebucht waren. Insgesamt meldeten sich Schützen aus 42 Ländern an. Die meisten Anmeldungen kamen aus Deutschland. Doch Kings of Archery bietet neben dem eigentlichen Wettkampf noch viel mehr. So findet über das ganze Wochenende eine Art Messe um das Wettkampffeld statt, bei der über 20 Marken aus dem Bogensport ihre (neusten) Waren präsentieren und verkaufen. Hoyt, Beiter oder Win&Win sind nur einige der Aussteller. Zusätzlich gibt es noch ein kostenloses Seminarprogramm. Interessierte können beispielsweise Seminare von Hoyt besuchen, wo die neuen Bögen vorgestellt werden. Es gibt aber auch Seminare, die sich zum Beispiel mit Mentaltraining befassen. In diesem Jahr wurde auch eine Fragerunde mit Mike und Gaby Schloesser angeboten, bei der man die beiden alles fragen konnte, was man schon immer mal so wissen wollte.

Von 25 zu fast 1000 Startern mit zehn Ausgaben – eine Erfolgsgeschichte
Weil im vorigen Jahr die zehnte Ausgabe des Formats zelebriert wurde, machen wir noch mal einen kleinen Sprung in die Vergangenheit und schauen uns die Entstehungs- und Erfolgsgeschichte an. Sander Doldermann, einer der Hauptverantwortlichen und Gründer, gewährt Einblicke in seinem Podcast mit Raymon Markus „Nerves of Steel“, benannt nach dem gleichnamigen Nebenevent während des Kings of Archery-Wochenendes. Inspiriert wurde Doldermann damals vom Vegas Shoot, an dem er selbst teilnahm. So lud er im ersten Jahr von Kings of Archery 25 seiner Freunde aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland zu seinem Heimatverein ein, um ein kleines Turnier unter Freunden nach den Vegas-Regeln auszutragen. Schon damals wurde viel Wert darauf gelegt, dass jede Wettkampfklasse im Anschluss an die Quali-Runde ein Finale austragen kann. Diese Idee und die damals noch sehr intime Veranstaltung sorgten für Begeisterung in der Bogensportszene, sodass das Turnier im nächsten Jahr wiederholt wurde. Doldermann erinnert sich: „Ich glaube, wir waren drei Jahre bei meinem Heimatverein. Im letzten Jahr nahmen etwa 100 Sportler am Wettkampf teil. Für uns war das ein Wendepunkt: Wie sollten wir weitermachen?“ Man wollte, dass das Turnier wächst. Damit sind aber auch hohe Kosten verbunden: Man muss in Scheiben investieren, ein größerer Austragungsort musste her.
Und diesen fand man. Unter den neuen Umständen konnte das Event nach und nach zu dem werden, was es heute ist. Aus dem kleinen familiären Schießen unter Freunden wurde langsam das, was wir heute unter Kings of Archery verstehen. Es konnten immer mehr Ideen umgesetzt werden, aus „Fehlern“ wurde gelernt, und die Teilnehmerzahlen stiegen mit jedem Jahr. Vor allem wurde das Event aber auch immer internationaler, denn mittlerweile kamen schon Schützen aus Amerika und aus den verschiedensten Ecken in Europa, um den Titel zu holen.
Im Jahr 2017 war dann allerdings auch die neue Location innerhalb von ein bis zwei Stunden vollkommen ausgebucht – erneut musste eine neue Lösung her. „Kosten verfünf- oder versechsfachten sich teilweise, wenn wir es größer aufziehen wollten. Das war beängstigend!“, erinnert Doldermann sich. „Wir waren sogar einmal an dem Punkt, die Marke Kings of Archery zu verkaufen.“ Im Jahr 2018 entschloss sich aber JVD, einer der weltweit führenden Vertriebspartner im Bogensportbereich mit Sitz in den Niederlanden, nach langen Gesprächen dazu, einzusteigen. Die Firma spielte schon länger mit dem Gedanken, ein Turnier zu kreieren, das ihren Namen trägt und das Potenzial dazu hat, eines der größten in Europa zu werden. Von 340 Startern kam man plötzlich an fast 1000 Startplätze, die vergeben werden konnten. Dafür zog man in die neue Location in Eindhoven um, die bis heute noch Austragungsort ist.
2018 fand auch zum ersten Mal die zusätzliche Messe mit Ausstellern rund um das Wettkampffeld statt. „Es war eine Win-Win-Situation für uns und JVD“, erinnert sich Doldermann, „wir möchten, dass die Teilnehmer das Turnier mit mehr Wissen, mit positiven Eindrücken, guten Gesprächen und auch vielleicht mit neuem Material verlassen. Und JVD möchte, dass ihre Kunden und Bogensportler direkten Kontakt mit Herstellern haben können.“ In diesem Zug kamen auch die Seminare für Jedermann dazu. Nach einer erfolgreichen Ausgabe 2018 wurde 2019 alles noch einmal übertrumpft. Dann kam die Pandemie. Und was dann kam, lest ihr hier!

In welchem Modus wird das Turnier eigentlich geschossen?
The Vegas Shoot war eine der Vorlagen für das Turnier. In Eindhoven schießt jeder Teilnehmer 90 Pfeile. 60 Pfeile samstags, 30 Pfeile sonntags, 900 Ringe sind als Maximum erreichbar. Alle Bogenschützen, mit Ausnahme von Blankbogenschützen und jenen, die von World Archery als sehbehindert eingestuft werden, schießen auf die einen Dreier-Spot. Blankbogenschützen haben die Möglichkeit, eine 40 Zentimeter-Auflage mit den Wertungsringen eins bis X zu wählen.
Ins Finale ziehen die besten acht nach der jeweiligen Qualifikation ein – oder alle, die eine 900 geschossen haben.
In diesem Jahr schossen insgesamt 28 Teilnehmer eine perfekte 900, unter ihnen ein Deutscher: Felix Wieser. Für ihn war es die erste Teilnahme an dem Format. „Es klingt einfach, man muss „nur“ das Gold treffen, um eine 900 zu erzielen. Gleichzeitig heißt es aber, du verlierst, wenn du nur eine Acht triffst. Und das bei 90 Pfeilen!“, sagte Wieser. Für manche scheint es einfacher auszusehen, aber dem Druck muss man auf die Distanz eben auch erst mal standhalten.
Für einen Rekord sorgten die beiden Recurveschützinnen Penny Healey (GBR) und Laura van der Winkel (NED). Beide schossen als erste Recurvedamen ebenfalls eine perfekte 900 in der Qualifikationsrunde, das gab es bei Kings of Archery noch nie.
Für alle, die sich nicht über die reguläre Qualifikation für das Finale qualifizieren, gibt es noch eine Jokerrunde, über die man einen Platz gewinnen kann. Das Finale wird wie in Vegas nach dem „last archer standing“-Prinzip geschossen, der Letzte, der noch steht, gewinnt.
Wer es nicht nach Eindhoven schafft, kann die spannenden Finalrunden online live verfolgen oder nachschauen.


Die Wertung während der Qualifikation sieht folgendermaßen aus:
Compound: (gelb) X10-10-9; (rot) 8-7; (blau) 6
Recurve: (gelb) X10-X10-10; (rot) 8-7; (blau) 6
Blankbogen: (gelb) X10-X10-10; (rot) 8-7; (blau) 6

Während der Finalrunde(n) ändert sich die Wertung dann noch einmal:
Compound: 1. und 2. Passe: (gelb) X10-10-9; (rot) 8-7; (blau) 6
Jede weitere Passe: (gelb) 10-9-9; (rot) 8-7; (blau) 6

Recurve: 1. und 2. Passe: (gelb) X10-X10-10; (rot) 8-7; (blau) 6
Jede weitere Passe: (gelb) X10-10-9; (rot) 8-7; (blau) 6

Blankbogen: 1. und 2. Passe: (gelb) X10-X10-10; (rot) 8-7; (blau) 6
Jede weitere Passe: (gelb) X10-10-9; (rot) 8-7; (blau) 6


Wer zeigt Nerven aus Stahl?
„Nerves of Steel ist ein Side Event an dem Wochenende. Wir sind aber nicht wirklich die Erfinder von einem solchen Format. Ich habe diese Art des Schießens bereits vor etwa 15 Jahren in einem Video gesehen“, erläutert Doldermann.
Nerves of Steel ist eigentlich recht simpel erklärt: Man schießt einen Pfeil auf eine Scheibe, die mit einer Stahlplatte bedeckt ist. In der Mitte dieser Platte befindet sich ein Loch, die sogenannte „Safe Zone“. Trifft man diese Zone und damit die weiche Scheibe, ist man eine Runde weiter. Trifft man auf Stahl, verfehlt man die Safe Zone oder geht der Pfeil in irgendeiner Weise kaputt, ist man raus. Begonnen wird mit der größten Safe Zone, die einen Durchmesser von zwölf Zentimetern hat. Nach jeder Runde wird dieser Durchmesser verkleinert, bis das Minimum von zwei Zentimetern erreicht ist. Das Ganze läuft, bis nur noch ein Schütze übrig ist. Um es in den Worten von Doldermann zu sagen: „Go big or go home! Dieses Motto, Nerven aus Stahl zu haben, steht doch auch für so viel mehr, ob es jetzt den Bogensport oder das Leben betrifft. Dass man in aufregenden Zeiten die Nerven hat, das zu zeigen und zu leben, was man trainiert hat.“ In diesem Jahr hieß „the last archer standing“ Christian Gravesen aus Dänemark. „Für mich war das Turnier eine Erfahrung, die über vieles hinausgeht, was ich bisher ausprobiert habe“, erzählt der Compoundschütze. „Ich kam dort an und hatte einen Startplatz für Nerves of Steel. Ich wusste, dass ich es schaffen kann, und mein Ziel war es, zu gewinnen. Aber ich wollte vor allem auch mir selbst beweisen, dass ich mental ruhig bleiben kann, vor allem in dem Wissen, dass mein Pfeil zerstört sein wird, sobald ich das Ziel verfehle.“ Und ruhig blieb er bis zum Schluss. Zuvor scherzte er noch mit einem Freund darüber, dass er extra für Nerves of Steel neue Pfeile gekauft hatte. Ganz nach seinem Motto: „Sie gehen nur kaputt, wenn man nicht trifft, oder?“

Wer Kings of Archery noch nicht auf seiner Liste stehen hat, sollte dies ändern und sich die Chance nicht entgehen lassen. Ob als Teilnehmer oder Zuschauer, dieses Wochenende bietet für jeden was! Der Termin für 2023 steht schon: Vom 10. bis zum 12. November werden die neuen „Kings of Archery“ gesucht und gekrönt. Und auch den diesjährigen Nerves of Steel-Gewinner wird man dann wohl wiedersehen: „Ich werde nächstes Jahr zurückkommen, und ich würde wirklich jedem empfehlen, es auch zu tun und auszuprobieren.“ Wer die Wartezeit überbrücken will, kann bis dahin auf den gängigen Streamingplattformen den Nerves of Steel Podcast anhören. Bisher gibt es zwar nur zwei Folgen, aber auch hier können sich Fans auf weitere Fortsetzungen freuen.


Ergebnisse nach Finale:

Compound Herren
1. Rishabh Yadav (IND)
2. Mike Schloesser (NED)
3. Mathias Fullerton (DEN)

Compound Damen
1. Ella Gibson (GBR)
2. Tanja Gellenthien (DEN)
3. Elisa Roner (ITA)

Compound Senioren
1. Wolfgang Wiener (AUT)
2. Luc Verdeyen (BEL)
3. Jens Asbach (GER)

Recurve Herren
1. Steve Wijler (NED)
2. Sachin Gupta (IND)
3. Federico Musolesi (ITA)

Recurve Damen
1. Gaby Schloesser (NED)
2. Penny Healey (GBR)
3. Audrey Machinet (FRA)

Blankbogen Herren
1. Giuseppe Seimandi (ITA)
2. Timo Durchdewald (GER)
3. Daan Saft (NED)

Blankbogen Damen
1. Carol-Anne Seez (GBR)
2. Tatiana Khrustaleva (ISR)
3. Olivia Elamsson (SWE)

Text: Anna Lena Gangluff
Bilder: Dean Alberga

Meine größte Leidenschaft ist das Feldbogenschießen!

Im Gespräch mit Sebastian Rohrberg – von Günter Kuhr
Leseprobe aus dem BOGENSPORT MAGAZIN 6/2022

 

Im Alter von zwölf Jahren begann Sebastian Rohrberg das Bogenschießen. Als er im Jahre 1999 erstmals Deutscher Meister im Feldbogensport wurde, begann eine sportliche Erfolgsgeschichte. Insgesamt neun Mal in Folge holte er bis zum Jahre 2007 das Gold bei den Deutschen Meisterschaften im Feldbogensport. Auf seinen ersten nationalen Titel folgte 1999 sein Debüt im internationalen Bogensport bei einem Feldbogenwettkampf. 2002 wurde er Vizeweltmeister, 2004 Weltmeister, 2006 Vizeweltmeister, und 2008 holte er sich erneut das Gold bei den Weltmeisterschaften im Feldbogensport. 2010 folgte WM-Bronze, und 2016 startete er erneut durch und sicherte sich bei der Feldbogen-Weltmeisterschaft die Silbermedaille.

Bei dieser Erfolgsbilanz treten sein Europameistertitel im Jahre 2003 und die Titel als Vize-Europameister in den Jahren 2005, 2007 und 2009 schon fast in den Hintergrund. 2007 wurde Sebastian Rohrberg Weltmeister in der Halle und sicherte sich 2010 den Titel des Europameisters in der Halle. Bei den World Games 2009 in Taiwan gewann er die Bronzemedaille.

Rohrberg wird nicht müde, und so sicherte er sich 2022 wieder einmal das Gold bei der Deutschen Meisterschaft im Feldbogenschießen. Letztlich ist diese Erfolgsbilanz nicht abschließend, denn internationale Teamerfolge und alle nationalen Titel würden hier den Rahmen sprengen. Als langjähriges Mitglied der Nationalmannschaft blieb ihm die Teilnahme an den Olympischen Spielen allerdings verwehrt. Mit seinen Erfahrungen zählt er seit Jahren zu den Tuningexperten der Nationalmannschaft.
Wir trafen den 43-jährigen Ausnahmeathleten bei einem Coaching im Feldparcours Wildeshausen und sprachen mit ihm über die Disziplinen des Bogensports, über seinen Wunsch nach einer Belebung von Feldbogenturnieren und schließlich auch über seine Ziele als Bogensportler.

BSM: Du warst viele Jahre in der Nationalmannschaft des olympischen Bogensports, hast aber immer auch an den Wettkämpfen des Feldbogensports teilgenommen. In welchen der Disziplinen siehst du die größere Herausforderung?

Rohrberg: Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Für mich ist die olympische Runde auf 70 Meter tatsächlich eine große Herausforderung, weil man fokussiert bleiben muss auf immer die gleiche Distanz. Das erzeugt eine gewisse Monotonie beim Schießen, weil du hier im Gegensatz zum Feldparcours immer wieder das Gleiche möglichst gleich gut tun musst. Hinzu kommt der Wind auf den Wettkampfplätzen, der die Pfeile rauszieht und taktische Fähigkeiten einfordert. Im Feldparcours kannst du nach einer schlechten Trefferlage die Scheibe abhaken und dich voll auf die nächste Scheibe mit ihren Besonderheiten einstellen. Du kannst einen Schalter umwerfen und an der neuen Scheibe neu durchstarten. Beim Feldbogensport gibt es besondere Anforderungen an deine Fähigkeiten, wie beispielsweise das Schießen mit Winkeln und das Schießen an den Hängen. Hier gibt es Scheiben, die im Gelände deine Pfeile seitlich herausziehen, und diese Geländemerkmale musst du richtig einschätzen können. Hinzu kommt die Fähigkeit, unbekannte Entfernungen bestmöglich einschätzen zu können. Die Hallendistanz hat eine besondere Herausforderung, weil du wirklich überwiegend in die Zehn schießen musst. Alle Disziplinen sind auf ihre Weise herausfordernd.

BSM: Sorgt die Abwechselung im Feldparcours für einen herabgesetzten Stresspegel beim Schießen gegenüber der olympischen Runde?

Rohrberg: Ich kann diese Frage nur aus meiner Wahrnehmung beantworten. Die Vorrunde mit den 72 Pfeilen kann man bei der olympischen Runde – wenn man gut schießt – eigentlich recht locker angehen lassen. Es ist wie ein Training unter Wettkampfbedingungen. Ich sehe die Vorrunde als ein gutes Training für das, was folgt. In den Matchrunden steigt der Stresspegel. Feldbogenschützen sprechen häufig davon, dass im Parcours die Atmosphäre entspannter ist. Ich bin mit dem Feldbogenschießen groß geworden und fand diese Disziplin immer sehr entspannt. Im Feldbogenwettkampf kommt es ein wenig auf die Gruppe an. Du gehst hier mit drei oder vier Bogenschützen den gesamten Wettkampftag durch den Parcours. Wenn das eine sympathische Gruppe ist, wird es ein entspannter Tag. Wenn aber innerhalb der Gruppe eine schlechte Stimmung aufkommt, wird es kompliziert. Bei der olympischen Runde ist das nicht so bedeutend, weil hier genügend andere Schützen auf dem Feld sind, mit denen man die Stimmung positiv halten kann. Hier gibt es auch immer noch den Coach oder den Betreuer für ein Gespräch. Im Feldparcours bist du auf dich allein gestellt und musst deine Lösungen selbst finden. Mir kommt diese Besonderheit aber zugute, weil ich die Situationen mit ihren Herausforderungen beim Schießen gerne selbst löse. Kurz gesagt, jede Disziplin hat ihre entspannten und stressigen Momente.

„Ein guter Recurveschütze, der das Schießen beherrscht, kann relativ schnell auch ein guter Feldbogenschütze werden.“

BSM: Wie kompliziert ist der Einstieg in den Feldbogensport für Bogenschützen, die hier bisher keine Erfahrungen haben?

Sebastian Rohrberg: Ein guter Recurveschütze, der das Schießen beherrscht, kann relativ schnell auch ein guter Feldbogenschütze werden. Das haben die letzten Jahre gezeigt. Im Feldbogenschießen haben selbst Amateure eine echte Chance, sich für einen internationalen Wettkampf zu qualifizieren, wenn die Leistung passt. Der Wechsel vom Feld zur olympischen Runde ist schwieriger, weil hier das Niveau mit den Profisportlern höher ist. Natürlich ist dieser Wechsel möglich, aber der Aufstieg in die Weltklasse ist aufgrund des hohen Niveaus im olympischen Bogensport kaum zu bewältigen. Bei Blankbogenschützen kann der Wechsel vom Feldbogensport zu der 72-Pfeilerunde schon erfolgreicher verlaufen.

BSM: International warst du sehr erfolgreich, doch an den Olympischen Spielen hast du niemals teilgenommen, obwohl du für die Spiele in Peking den nationalen Qualifikationswettbewerb gewonnen hattest. Wo lagen dafür die Ursachen?

Sebastian Rohrberg: Bei der Weltmeisterschaft in Leipzig holte Jens Pieper einen Quotenplatz für die Olympischen Spiele in Peking. Als Mitglied des deutschen Top-Teams hatte ich die Berechtigung, an dem nationalen Qualifikationswettbewerb für die Spiele teilzunehmen. Trotz der acht verfügbaren Startplätze nahmen ausschließlich Jens Piper und ich an dem Qualifikationswettbewerb teil. Mein Ergebnis blieb am ersten Wettkampftag deutlich unter meinen Möglichkeiten, oder, anders gesagt, war mein Schießen unterirdisch schlecht. Dennoch ich erhielt dafür den zuvor festgelegten Punktestand im Sinne des Qualifikationsmodus. Am nächsten Tag folgten 14 Matche zwischen Jens und mir, und für jeden Matchsieg wurden wieder Punkte verteilt. Ich gewann an diesem Tag viele Matche, und es wurde erforderlich, den Sieger des Qualifikationswettbewerbes im Stechen zu ermitteln. Letztlich wurden drei aufeinanderfolgende Stechpfeile notwendig, bis ich den Wettbewerb mit zwei Punkten Vorsprung gewinnen konnte. Der Sieger des nationalen Qualifikationswettbewerbes war im Sinne der Qualifikationskriterien berechtigt, an den Olympischen Spielen in Peking teilzunehmen. Nach dem Sieg im Qualifikationswettbewerb wurde für mich die Teilnahme am World Cup im französischen Boé vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt war mir bewusst, dass ich den Qualifikationswettbewerb mit viel Glück gewonnen hatte, da meine Technikumsetzung wirklich schlecht war. Mein Leistungsniveau passte nicht. Also intervenierte ich und wollte anstelle des World Cups meine Zeit nutzen, um im Training meine Schießtechnik wieder auf das alte Niveau zurückzubringen. Das war aus meiner Sicht als Schütze dringend notwendig als Vorbereitung für die Spiele in Peking. Hier gab es dann aber unterschiedliche Auffassungen zwischen dem damaligen Bundestrainer, dem DSB und mir, und es wurden Lebenssachverhalte einbezogen, die einfach falsch bewertet wurden. Die Kommunikation wurde in dieser Sache zunehmend schwieriger. Der DSB entschied dann, dass meine Teilnahme am World Cup in Boé eine Voraussetzung für meine Teilnahme an den Olympischen Spielen sein sollte. Ich ging damals davon aus, dass der DSB nicht gegen die selbst aufgestellten Qualifikationskriterien verstoßen würde. Als Schütze entschied ich mich, nicht am World Cup teilzunehmen, sondern die Zeit für das Training zu nutzen, weil ich das für bedeutender hielt, um in Peking in Form zu sein. Als später dem deutschen Team ein zweiter Quotenplatz für die Männer zugesprochen wurde, nutzte der DSB dieses Angebot nicht und gab diesen Quotenplatz an Frankreich ab. Ich wurde trotz der beiden verfügbaren Quotenplätze bei der Teilnahme an den Olympischen Spielen nicht berücksichtigt, obwohl ich nach den Qualifikationskriterien den Startplatz sicher hatte.

„Strategie spielt eine Rolle, aber es geht dabei ganz simpel um die Abfolge von Erkennen, Mut und Machen.“

BSM: Du schießt heute Wettkämpfe in der olympischen Runde, in der Halle, der Bundesliga und im Feldbogensport. In welcher Disziplin liegt heute deine große Leidenschaft?

Rohrberg: Meine größte Leidenschaft ist und bleibt das Feldbogenschießen! Mich faszinieren die Herausforderungen, die der Parcours bereithält. Diesen Spaß an der Bewältigung von Herausforderungen finde ich in anderer Form auch bei anderen Disziplinen. Bei der olympischen Runde beispielsweise fasziniert mich besonders das Schießen bei Wind, weil es eine besondere Taktik einfordert. Das ist für mich wesentlich interessanter als das Schießen bei Windstille. Beim Feldbogensport kommen eine ganze Menge weiterer Parameter zusammen, wie das Wechselspiel aus Licht und Schatten, die Position der Scheibe im Gelände, der Untergrund, der sich für meinen Stand im Gelände bietet, und natürlich das Schätzen von unbekannten Entfernungen. Das alles bestmöglich zu bewältigen ist die Herausforderung, die meine Leidenschaft für den Feldbogensport immer wieder weckt.

BSM: Ist das vergleichbar mit einem Strategiespiel?

Rohrberg: Strategie spielt eine Rolle, aber es geht dabei ganz simpel um die Abfolge von Erkennen, Mut und Machen. Die Intuition hat hier auch einen hohen Stellenwert. Wenn du die Situation im Parcours nicht richtig erkennst, wenn dir der Mut fehlt, triffst du nicht.

BSM: In Norddeutschland gibt es zahlreiche Vereine mit großartigen Parcours. Würdest du dir ein reichhaltigeres Wettkampfangebot im Feldbogensport wünschen, und wie würde das in deiner Idealvorstellung aussehen?

Rohrberg: Vor Jahren gab es einen Niedersachsen-Cup im Feldbogenschießen. Vielleicht ist es schwierig für die Vereine, so einen Cup neu auf die Beine zu stellen. Aktuell veranstalten die Vereine Vereins- und Kreismeisterschaften. Einige der Vereine tragen diese Feldbogenwettkämpfe als offene Meisterschaften aus, an denen dann auch externe Feldbogensportler teilnehmen können. Ich würde mir wünschen, dass die Vereine beispielsweise ihre Kreismeisterschaft parallel als Arrowhead-Turnier ausschreiben würden. Wenn sich die Vereine dann auch noch untereinander absprechen, könnte man eine Arrowhead-Turnierserie starten, deren Wettkämpfe die Wochenenden von April bis Mai abdecken. Der zusätzliche Aufwand würde sich in Grenzen halten, da die Parcours ohnehin jährlich für die Kreismeisterschaften vorbereitet werden. Das wäre ein großartiger Schritt für den Feldbogensport, und man könnte wieder etwas mehr Schwung in diese Disziplin bringen. Selbst wenn sich zu Beginn möglicherweise die externe Beteiligung von Schützen in Grenzen halten sollte, bietet ein solches Modell ein Wachstumspotenzial, das dann den Feldbogensport belebt.

BSM: Welches sind im norddeutschen Bereich deine Top-Parcours, und welche Merkmale machen diese Parcours für dich so interessant?

Rohrberg: Ich kenne sicher nicht alle Parcours in Norddeutschland. Einige der alten Parcours gibt es heute nicht mehr. In Hornburg liegt ein sehr schöner Parcours mit besonderen Highlights. Hier kann der Wind einfallen, es gibt interessante Winkel, zwar nicht so extrem steile Schüsse, aber Hänge, die schwierig zu schießen sind. Dieser Parcours gefällt mir beispielsweise sehr gut. Auch im niedersächsischen Wildeshausen liegt ein sehr schöner Parcours, der zwar nicht so schwierig zu schießen ist, dennoch gibt es hier besondere Herausforderungen, wie Licht und Schatten sowie einige sehr schöne Winkel und Schrägen. Der Parcours in Delmenhorst ist markant, weil er ziemlich dunkel ist. Darüber hinaus gibt es natürlich weitere interessante Kurse, wie beispielsweise in Celle. Die Deutsche Meisterschaft 2022 in Celle war herausragend mit den 23 Scheiben, die von den Zuschauern einsehbar waren. Diese Parcours haben ihre individuellen Besonderheiten, und das macht sie so interessant. Selbst ein Kurs, der relativ gerade ist, bleibt herausfordernd, weil man letztlich immer noch treffen muss.

„Ich würde mir wünschen, dass die Vereine beispielsweise ihre Kreismeisterschaft parallel als Arrowhead-Turnier ausschreiben würden.“

BSM: Auf den Wettkämpfen schießt du den olympischen Recurvebogen. Gibt es auch andere Bogenarten, die du zumindest gelegentlich schießt?

Rohrberg: Compound, Jagdrecurve und den Blankbogen schieße ich immer wieder gerne. Mit dem Jagdrecurve hatte ich vor Jahren auch schon mal an einer 3D-Landesmeisterschaft teilgenommen. Der Jagdrecurve war ein alter Black Bear Hunter mit 58 Zoll und rund 45 Pfund Zuggewicht auf den Fingern. Das hat wirklich Spaß gemacht, und der Spaß stand hier auch im Vordergrund, auch wenn mein Anspruch erhalten blieb, die Scheiben ordentlich zu treffen. Den Longbow und den Reiterbogen schieße ich nicht so gerne.

BSM: Den Spaß am Bogenschießen hast du in den Jahren nie verloren?

Rohrberg: Den Spaß am Wettkampfsport hatte ich schon phasenweise verloren. Das betraf nie das Ligaschießen. Doch bei der FITA beziehungsweise bei der olympischen Runde gab es Momente, in denen mir der Spaß verloren gegangen war. Wenn ich diese Momente heute selbstkritisch betrachte, lagen die Ursachen nicht nur bei Externen – ich habe sicher auch meinen Teil aufgrund von Entscheidungen, die ich getroffen hatte, dazu beigetragen. Im Feldbogensport hatte ich den Kader verlassen, weil ich mit verschiedenen Rahmenbedingungen nicht zufrieden war. Trotz all dieser Phasen bin und bleibe ich Bogenschütze, und der Wettkampfsport kitzelt mich immer wieder.

<<< Foto: sr-5.jpg; BU: Im Scheinwerferlicht testet Tuningexperte Sebastian Rohrberg die Anlage für High Speed-Aufnahmen beim Bundeskader. >>>

BSM: Seit Jahren zählst du zu den Bogentunern, die beim Bundeskader eingesetzt werden. Kannst du einmal kurz darstellen, welche Aufgaben du dort übernimmst?

Rohrberg: Zusammen mit Rafael Poppenborg habe ich mich auf die High Speed-Anlage spezialisiert, die vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaften bereitgestellt wird. Die Anlage bietet ein überaus interessantes Experimentierfeld innerhalb des Bogentunings. Sie ist kein absoluter Ersatz für die Schießtests, jedoch sind die High Speed-Aufnahmen eine wertvolle Hilfe für die Materialabstimmung. Die High Speed-Anlage gewährleistet eine Präzisierung und Beschleunigung des gesamten Tuningprozesses. Bei den Maßnahmen tune ich dann auch direkt am Equipment des Schützen.

BSM: Vor einigen Wochen haben wir uns im Feldbogenparcours in Wildeshausen getroffen. Du hast dort ein Coaching gegeben. Können dich Vereine oder auch Einzelsportler für ein solches Coaching buchen?

Rohrberg: Grundsätzlich ist so etwas möglich, wenn es meine Zeit zulässt. Und es ist natürlich auch eine Frage des Budgets. Im Feldparcours ist allerdings ein Coaching mit nur maximal zwei Sportlern sinnvoll. Tagesseminare bei Vereinen – beispielsweise im Bogentuning – können auch mehr Teilnehmer umfassen.

BSM: Das Bogenschießen ist nach wie vor deine große Leidenschaft. Verfolgst du heute sportliche Ziele, die du dir langfristig gesteckt hast?

Rohrberg: Momentan sind meine Trainingsumfänge dafür nicht ausreichend. Langfristig reizt mich die Teilnahme an einem internationalen Wettkampf auf jeden Fall. Vorbereitend wäre es erforderlich, meinen Trainingsumfang in der Hallensaison hochzusetzen, und damit kann ich relativ schnell zur Top-Form zurückfinden. Mein Anspruch wäre allerdings eine realistische Chance, in das Finale einer Europa- oder Weltmeisterschaft zu kommen. Andernfalls würde ich mich nicht für eine Teilnahme entscheiden. Die Schießleistung muss also in der betreffenden Saison passen.

Shoot-off-Spezialist Wijler ist es egal, wie er aussieht – wenn er gewinnt

„Ein Shoot-off fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes an wie ein Pfeil, bei dem es um alles oder nichts geht“, sagt Steve Wijler, der am vergangenen Samstag im Tiebreak seinen zweiten Indoor World Series-Titel gewann.

Zum Beitrag «Shoot-off-Spezialist Wijler ist es egal, wie er aussieht»

(Quelle Text/Bild: worldarchery.sport)

Editorial zur Ausgabe 1/2023

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

was haben unsere Top-Athletinnen Lisa Unruh, Elena Richter und Karina Winter gemeinsam – außer, dass sie sowohl auf nationalem als auch auf internationalem Parkett den Bogensport eindrucksvoll (re-)präsentieren? Ich darf diese Frage – wie meistens an dieser Stelle – selbst beantworten: Sie sind durch dieselbe Kaderschmiede gegangen, wurden jeweils am „SLZB“ ausgebildet. „SLZB“ steht für „Schul- und Leistungssportzentrum Berlin“ und dieses ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine Eliteschule des Sports. Ganz nach dem Motto „früh übt sich“ werden die jungen Sportler*innen systematisch an den Bogensport herangeführt, Talente eruiert und für den Leistungssport vorbereitet. Dass es hier hochprofessionell zugeht, mag nicht weiter verwundern, wie systematisch sich die einzelnen Mosaikteile allerdings zu einem Gesamtkonzept fügen, ist nicht nur interessant sondern auch beeindruckend. Grund genug also, das Programm des Zentrums etwas ausführlicher vorzustellen. Günter Kuhr war für das BSM vor Ort.

***

Sport im Allgemeinen (und Bogensport im Speziellen) ist immer auch Kopfsache, und zwar zu einem nicht unerheblichen Teil. Soweit nichts Neues. Der Placebo-Effekt beschreibt ebenfalls eine Kopfsache, nämlich das Eintreten einer Wirkung, ohne dass tatsächlich ein Wirkstoff verabreicht wurde. Demnach kann allein der Glaube an eine Wirkung diese auch auslösen. Wem es nun zu psychologisch wird, kann gerne aussteigen, ich würde aber empfehlen, das folgende Gedankenspiel (zumindest spaßeshalber) mitzuspielen: Würde man den Placebo-Effekt auf den Sport übertragen, ließen sich Leistungssteigerungen allein durch die Überzeugung erzielen, ein wirksames Mittel zur Ergebnisverbesserung gefunden zu haben. Dieses Mittel muss keineswegs ein Medikament sein, sondern kann ebenso gut ein neues Material oder eine neue Trainingsmethode darstellen. So bestätigt auch die anerkannte Sozialpsychologin Ellen Langer, dass der Placebo-Effekt im sportlichen Bereich eine wichtige Rolle bei der Verbesserung individueller Leistungen spielen kann. Und weiter: Dass es wichtig ist, die Möglichkeiten des Placebo-Effekts in der Sportpsychologie und -medizin zu erkunden und zu nutzen. Glücklicherweise kann das BSM bei solchen Themen auf einen besonders versierten Autor zugreifen. In diesem Sinne, lieber Markus Wagner: Vielen Dank, dass Sie die nicht ganz einfache Materie für uns aufbereitet haben.

***

Am Ende bestimmen Angebot und Nachfrage über einen Preis. Diese Logik führt vor allem im Sport oft zu ungläubigem Kopfschütteln. Sei es, weil wir über wahnwitzige Beträge reden, wie zum Beispiel die Spielerablösen im Profifußball – oder sei es, weil die kommunizierten Beträge unser Gerechtigkeitsempfinden gehörig auf die Probe stellen. Genau so erging es unserer Autorin Anna Lena Gangluff, als sie sich für diese Ausgabe mit dem Thema „Preisgelder“ beschäftigt hat. Dass im Bogensport überwiegend deutlich geringere Preisgelder gezahlt werden, als in medienwirksameren Sportarten, mag sofort einleuchten. Aber dass beim selben Turnier Compound-Sieger mehr als Recurve-Sieger, Männer mehr als Frauen und Nichtbehinderte mehr als Parasportler erhalten, scheint erklärungsbedürftig. Wir sind dieser Frage auf den Grund gegangen und ich kann vorwegnehmen, dass es auch hierfür eine logische Erklärung gibt. Ob diese auch als fair oder gerecht empfunden wird, hängt wiederum sehr vom Blickwinkel des Betrachters ab. Marktwirtschaft eben …

***

Liebe Leserinnen und Leser, soweit der kurze Überblick über die Themen unserer ersten Ausgabe des Jahres 2023. Selbstredend ist dies nur ein kleiner Auszug, unsere Redaktion hat sich wieder einiges darüber hinaus einfallen lassen. Lassen Sie sich einfach überraschen.

Herzlichst,

Ihr BSM-Team

 

In unserer Rubrik Altausgaben können Sie diese (und andere) Ausgaben online bestellen und sich bequem per Post liefern lassen.

Bogen international: Als Nummer 1 der Welt in Las Vegas

Vier DSB-Bogensportathleten sind die Tage über in Las Vegas/USA (3.-5. Februar), wo sie an den dortigen Hallen-Events teilnehmen. Eine davon ist Katharina Bauer, die als strahlende Weltranglisten-1. in die USA reist.

Zum Beitrag «Bogen international: Als Nummer 1 der Welt in Las Vegas»

(Quelle Text/Bild: www.dsb.de)

Jaatma gewinnt Nîmes zum dritten Mal in vier Jahren

Die estnische Compounderschützin Lisell Jaatma besiegte Andrea Munoz und gewann damit zum dritten Mal seit 2020 das Sud de France-Bogenschützenturnier. Kris Schaff, Tatiana Andreoli und Thomas Chirault komplettierten die Siegerliste.

Zum Beitrag «Jaatma gewinnt Nîmes zum dritten Mal in vier Jahren»

(Quelle Text/Bild: worldarchery.sport)

Anlauf gegen Gewalt – unabhängige Anlaufstelle bei Gewalt und Missbrauch im Spitzensport

Leseprobe aus dem BOGENSPORT MAGAZIN 6/2022 – von Anna Lena Gangluff

„Ich finde es eine sehr gute Initiative, weil ich jede Art von Gewalt als ein absolutes No-Go empfinde. Sowohl im Sport als auch im Leben nebenbei“, sagt Elisa Tartler, eine der bekanntesten deutschen Bogensportlerinnen. Sie selbst ist Unterstützerin der Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“, die am 16. Mai dieses Jahres vom Verein Athleten Deutschland offiziell in Betrieb genommen wurde.

Hier finden Leistungssportler und -innen Hilfe, Beratung und Unterstützung, wenn sie Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch im Sportbereich gemacht haben. Nicht nur aktive Kaderathleten können auf das Angebot zurückgreifen, sondern auch ehemalige. Dabei werden Betroffenen verschiedene Möglichkeiten geboten, Hilfe zu finden.

Einmal wird eine anonyme telefonische Fachberatung geboten. Der telefonische Erstkontakt findet mit Fachkräften des Vereins N.I.N.A. statt, die auch Träger des bundesweiten “Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch” sind. Das N.I.N.A.-Team wurde extra mit der Lebenswelt der Bundeskaderathletinnen und -athleten vertraut gemacht und für die Besonderheiten des Spitzensports sensibilisiert.

Neben der telefonischen Hilfe können Betroffene sich auch schriftlich melden. Gitta Axmann und Nadine Dobler sind hier die direkten Ansprechpartnerinnen. Beide sind Expertinnen für sexualisierte, psychische und physische Gewalt und stehen darüber hinaus für eine längere Begleitung Betroffener zur Verfügung.

Als drittes haben Betroffenen die Möglichkeit, eine rechtliche und/oder psychotherapeutische Erstberatung zu beanspruchen. Die Kanzleien Ladenburger und Lörsch führen die rechtliche Beratung durch. Beide Kanzleien können eine langjährige Erfahrung in der Beratung von Betroffenen vorweisen. Dr. Anne Boos ist psychologische Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Ansprechpartnerin für die psychotherapeutische Unterstützung. Über die Netzwerke MentalGestärkt und „Athletes in Mind“ können bei Bedarf weitere Therapeuten aktiviert und damit sogar wohnortnahe psychologische oder psychotherapeutische Betreuungsangebote vermittelt werden. Falls betroffene Athletinnen es ausdrücklich wünschen, kann Athleten Deutschland Kontakt zu den betreffenden Verbänden herstellen. Dabei werden die entsprechenden Verbände über die Vorfälle informiert, sodass auch von Verbandsseite Unterstützung gewährleistet werden kann.

Elisa Tartler erzählt darüber hinaus, dass sie selbst durch Athleten Deutschland darauf aufmerksam geworden ist. „Ich bin nämlich Mitglied und bekomme somit noch vor der Veröffentlichung Bescheid“, erläutert sie.

Im Jahr 2017 gründete man Athleten Deutschland mit dem klaren Ziel, Athletinnen und Athleten, die für Deutschland an den Start gehen, ein Mitspracherecht zu ermöglichen. Man wollte ihnen allen erstmals eine Stimme geben, die wirklich gehört werden sollte. Um dies zu erreichen, setzt sich der Verein, der vom Bundesinnenministerium aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages finanziell gefördert wird, als Hauptaufgabe, grundlegende Veränderungen im Sportsystem auf nationaler und internationaler Ebene durchzusetzen. Dabei stehen vor allem die Athletinnen selbst im Mittelpunkt. Es geht darum, sie zu schützen, ihnen ihre Perspektiven aufzuzeigen sowie ihnen eine effektive Mitbestimmung zu ermöglichen. So beschreiben Sprecher von Athleten Deutschland selbst: „Gemeinsam mit unseren Mitgliedern kämpfen wir für weltbeste Rahmenbedingungen, die ihnen die Möglichkeit bieten, ihre sportlichen und persönlichen Potenziale zu entfalten. Wir treten ein für fairen und sauberen Sport, frei von Missbrauch und Gewalt, Manipulation und Misswirtschaft. Zur Erfüllung unserer Mission kollaborieren wir mit verschiedenen Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie mit gleichgesinnten Partnern in Europa und der Welt.“

Liebe Leserinnen und Leser, vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum wir über dieses Thema berichten, denn es gab doch keinerlei Vorfälle dieser Art im Bogensport – zumindest keine bekannten. Der deutsche Bogensport ist doch von größeren Skandalen dieser Art bisher verschont geblieben, Gewalt oder Missbrauch in kleinen Bogensportvereinen gibt’s doch gar nicht, denken viele vielleicht. Und in 99 Prozent der Vereine ist das auch wahrscheinlich so. Aber wussten Sie, dass im Jahr 2021 eine Studie namens „Safe Sport“ zu sexualisierter Gewalt im Leistungssport durchgeführt wurde? Dort ergaben sich einige erschreckende Erkenntnisse auf Vereins- und Breitensportebene.

„Der Vereinssport ist genauso wie andere gesellschaftliche Bereiche von Gewalt betroffen. Wir können nicht so tun, als sei der Vereinssport ein belästigungsfreier, diskriminierungsfreier, ja ausschließlich schöner Ort“, sagte vor einem Jahr Bettina Rulofs, eine Sportsoziologin, die selbst an der Studie teilnahm. Von fast 4400 Vereinsmitgliedern, die an der Umfrage teilnahmen, gaben mehr als zwei Drittel an, im Verein mindestens einmal eine Form von sexualisierten Grenzverletzungen, Belästigung und Gewalt erfahren zu haben.

Wenn man sich das Ganze noch genauer anschaut, zeigt sich, dass knapp ein Fünftel im Zusammenhang mit dem Vereinssport ungewollte sexuelle Berührungen oder Handlungen erlebt hat. Ein Viertel der Studienteilnehmer berichtet von anzüglichen Bemerkungen oder unerwünschten Text- oder Bildnachrichten. Auf zehn Personen kamen sechs, die bereits einmal im Vereinssport beschimpft oder sogar bedroht wurden. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Gewalterfahrungen eben nicht nur in anderen gesellschaftlichen Bereichen gemacht werden, sondern eben auch im Sport-Kontext.

Natürlich bedeutet das alles jetzt nicht, dass in jedem Verein Erfahrungen dieser Art gemacht werden. Sogar die Mehrheit der in der Studie Befragten gab an, im Vereinssport positive Erfahrungen gemacht zu haben. Marc Allroggen von der Uniklinik Ulm erläuterte damals: „Sport hat ja viele positive Aspekte, und von daher ist es möglich, dass diese negativen Erfahrungen in Bezug auf die positiven Erfahrungen im Sport deutlich geringer bewertet werden.“

Die Studie ging allerdings noch weiter. Im nächsten Schritt wurden 300 Sportorganisationen, sprich Stadt- und Kreissportbünde sowie Fachverbände, befragt, wie sie mit dem Thema sexualisierter Gewalt im Sport umgingen. „Von den über 300 Sportverbänden, die wir da befragt haben, gaben fast alle an, dass sie die Prävention von Gewalt allgemein, aber insbesondere auch die Prävention von sexualisierter Gewalt für relevant halten“, so Rulofs. Die daraus resultierende Vermutung, dass diese Organisationen diese Haltung bis in ihre Vereine, ihre Basis, trägt, liegt nahe.

Im Jahr 2016 hatte das Team um Rulof und Allroggen bereits sexualisierte Gewalt im Leistungssport untersucht und Zahlen vorgelegt. „Wir können jetzt anhand dieser großen Stichprobe von über 4000 Befragten im Vereinssport sehen, dass solche Gewalterfahrungen, ob sie nun sexualisierte Gewalt betreffen oder auch emotionale Verletzung und Gewalt, in beiden Bereichen vorkommen, also im Breitensport wie im Leistungssport.“ Sie sehen aber ein höheres Vorkommen im Leistungssport.

Wenn man sich diese Ergebnisse vor Augen hält, ist es dann vielleicht nicht schon leichtsinnig, gar naiv, zu denken, dass es so etwas nicht auch im Bogensport geben kann?

Die Ergebnisse der oben genannten Studie gehören zu den ausschlaggebenden Dokumenten, auf die der Verein sich beruft. Genau hier, bei diesen erschreckenden Zahlen, soll die Aktion „Anlauf gegen Gewalt“ ansetzen und für Verbesserung sorgen. Denn es hat sich gezeigt: Hilfe wird benötigt, denn es gibt diese Probleme wirklich. Julia Hollnagel, zuständig für Kommunikation und Marketing im Verband, berichtet dem Bogensport Magazin: „Nach dem Hearing der unabhängigen Aufarbeitungskommission für Kindesmissbrauch haben wir ein Impulspapier für ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport verfasst, das Kompetenzen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung haben soll. Unsere Idee für ein unabhängiges Zentrum hat viel Zuspruch von Betroffenen, aus der Politik und aus der Fachpraxis. Seit wir uns öffentlich gegen Gewalt und Missbrauch stark machen, haben uns auch vermehrt Betroffene kontaktiert. Sie berichteten häufig, dass sie zögerten, sich an verbandsinterne Ansprechpersonen zu wenden. Diesen wird eine Nähe zum System, in denen sich die Täter bewegen, zugeschrieben. Als Athletenvertretung war für uns schnell klar, dass wir hier zeitnah ein gutes Angebot auf die Beine stellen möchten, um Betroffenen den oft schwierigen Schritt des Erstkontakts zu erleichtern. Anlauf gegen Gewalt ist somit ein ergänzendes, kein ersetzendes, Angebot für Betroffene von Gewalt und Missbrauch im Spitzensport. Es stellt Wahlfreiheit für die Betroffenen sicher.“ Im Dezember 2021 teilte der Verein mit, dass man mit der Errichtung, dem Aufbau, der Anlaufstelle für von Gewalt und Missbrauch betroffenen Athleten begonnen habe. Besonders viel Wert wurde darauf gelegt, dass den entsprechenden Bundeskaderathleten psychosoziale und rechtliche Erstberatungsangebote ermöglicht werden können. Johannes Herber, Geschäftsführer von Athleten Deutschland, sagte: „Der Austausch mit Betroffenen und unseren Mitgliedern hat uns die dringende Notwendigkeit verbandsunabhängiger Ansprechpersonen und Unterstützungsleistungen vor Augen geführt. Mit der Anlaufstelle wollen wir diese Lücke füllen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe gehen wir jetzt mit großer Sorgfalt an“. Gesagt – getan.

„Anlauf gegen Gewalt wird seit der Inbetriebnahme regelmäßig von Betroffenen kontaktiert“, betonte Hollnagel. Außerdem hat der Verein weitere Pläne für die Zukunft, um den Sport in dieser Hinsicht noch sicherer zu gestalten: „Der nächste große Schritt im Bereich Safe Sport in Deutschland ist die Schaffung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport. Die Bundesregierung hat die Unterstützung dieses Vorhabens im Koalitionsvertrag verankert. Das Zentrum soll eine unabhängige Instanz sein, die Kompetenzen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung innehat und sich sowohl auf den Breitensport als auch auf den Leistungssport erstreckt. Es soll neutral Untersuchungen durchführen können und über Sanktionsbefugnisse verfügen. Aktuell führen DOSB und dsj einen sport-internen Dialogprozess durch, dessen Ziel eine gemeinsame Haltung des organisierten Sports zur Schaffung eines solchen Zentrums ist.“

Aktuell richtet sich das Angebot von „Anlauf gegen Gewalt“ an Leistungssportlerinnen, sprich alle, die in irgendeiner Form einem Kader (Bezirks-, Landes-, Bundeskader) angehören. Trotzdem können sich natürlich auch Sportlerinnen, die auf Vereinsebene auf Gewalt oder Missbrauch gestoßen sind, melden, niemand wird abgewiesen.

Falls Sie selbst Erfahrungen solcher Art machen mussten, falls Sie jemanden kennen, der diese Erfahrungen machen musste, melden Sie sich! Sie können sich sicher sein, dass Sie damit nicht alleine sind, und finden genau hier die Hilfe, die Sie benötigen.

„Ich hoffe, dass Sportlern, die von irgendeiner Art von Gewalt betroffen sind, geholfen werden kann, und ich finde, selbst wenn man nur einer Person helfen kann, ist das schon ein Gewinn“, sagte Elisa Tartler.

So kannst du die Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“ kontaktieren: Telefonisch unter 0800 90 90 444, Sprechzeiten montags von 11-13 und donnerstags von 16-19 Uhr. Schriftlich an kontakt@anlauf-gegen-gewalt.org

Der BSM-Kalender 2023

„Kalender“ kann man ja bekanntlich nie genug haben. Genau das hat sich unsere Grafikerin auch gedacht und hat mit zwei gelungenen Bogensport-Motiven einen Jahreskalender erstellt, den wir Ihnen heute zum Download anbieten möchten.

So behalten Sie einerseits den Überblick und das BOGENSPORT MAGAZIN in (hoffentlich) guter Erinnerung. Und HIER geht’s zum Download.

Mit frischem Wind den Para-Bogensport beleben

Günter Kuhr im Gespräch mit Rainer Schemeit – Leiter Para-Bogensport im Deutschen Behindertensportverband (Leseprobe aus dem BOGENSPORT MAGAZIN 3/2022)

Rainer Schemeit ist seit 2002 mit wechselnden Funktionen im Deutschen Behindertensportverband (DBS) aktiv. Seit 2013 ist der 65-Jährige der Abteilungsleiter des Para-Bogensports im DBS und wurde Ende 2021 für weitere vier Jahre gewählt. Die Corona-Krise mit den besonderen Hygienemaßnahmen im Para-Sport setzte dem Wettkampfsport schwer zu, Deutsche Meisterschaften ließen sich nicht mehr finanzieren und auch im Nationalteam gab es Umwälzungen, die noch zu bewältigen sind. Im Gespräch mit dem Bogensport Magazin gibt Rainer Schemeit einen Einblick in die aktuelle Situation und ist zuversichtlich, den Para-Bogensport in Deutschland mit frischem Wind zu beleben. Ein wichtiger Schritt ist die Besetzung der aktuell vakanten Stellen der Cheftrainer. Das Gespräch wurde im April 2022 geführt.

BSM: Bevor wir einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Para-Bogensport werfen, skizziere doch deinen Weg zum Bogenschießen.
Rainer: 1976 hatte ich einen schweren Autounfall, bei dem ich einen Bandscheibenvorfall erlitt. Mein Arzt empfahl mir das Bogenschießen zur Kräftigung der Rückenmuskulatur. Bei der Vereinssuche erfuhr ich von einer Vereinsgründung in Achim bei Bremen, schoss dort meine ersten Pfeile und bin auch heute noch Mitglied in diesem Verein. Im Laufe der Zeit verschwanden durch die therapeutische Behandlung und die Stärkung der Rückenmuskulatur meine Lähmungserscheinungen, so dass ich heute zwar noch Einschränkungen habe, aber mein Gesundheitszustand im Wesentlichen zurückgestellt werden konnte. Mit den letzten Handicaps habe ich gelernt umzugehen.

BSM: Bist du mit den Handicaps aktuell selbst Para-Bogensportler?
Rainer: Im Para-Bogensport gibt es einige wichtige Unterscheidungen. Es gibt in Deutschland die Gruppe der allgemeinen Behinderungen, die einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 oder mehr haben. Darüber hinaus gibt es Para-Bogensportler, die nach der internationalen Klassifizierung über den Grad ihrer Behinderung einen Startplatz für internationale Wettkämpfe erhalten können. Das betrifft im deutschen Para-Bogensport etwa ein Drittel der Para-Sportlerinnen und -Sportler, die nach dieser Klassifizierung an internationalen Wettkämpfen teilnehmen können. Zwei Drittel der deutschen Para-Bogensportler werden zur Klasse A/B gezählt und können international nicht schießen. Ich selbst zähle zu dieser A/B-Gruppe, da ich die internationale Klassifizierung nicht erreiche.

BSM: Die Aufgaben als Sportfunktionär kosten Zeit. Schießt du heute selbst noch aktiv Bogen?
Rainer: In den 1980er-Jahren begann ich zunächst neben dem aktiven Bogenschießen mit einem Recurvebogen auch erste Erfahrungen als Trainer zu sammeln, wurde später über viele Jahre Vorsitzender des Vereins und begann auf diese Weise langsam in die Rolle des Funktionärs im Sport hineinzuwachsen. Als ich dann die Stelle des Landestrainers in Niedersachsen übernahm und zudem für die Ausbildung zuständig war, wurde die verfügbare Zeit für mich als aktiver Bogenschütze immer weniger. Für die Inhalte der Ausbildung sammelte ich zwischenzeitlich Erfahrungen mit dem Compound, aber nie in der Intensität, dass ich mit dem Compound Wettkämpfe schoss. Die Aufgaben wuchsen und heute schieße ich – wenn es die Zeit zulässt – mit Leidenschaft Blankbogen.

BSM: Heute bist du auch der Abteilungsleiter für den Para-Bogensport im DBS. Wie war dein Weg bis zu dieser Funktion?
Rainer: Meine ersten Erfahrungen im Para-Bogenpsport sammelte ich in den 1980er-Jahren, als ich als Trainer regelmäßig Einladungen von einem Behindertensportverein in Achim erhielt, um dort eine relativ kleine Gruppe von Para-Bogensportlern zu trainieren. Mit diesen Erfahrungen bewarb ich mich 2002 auf eine ausgeschriebene Honorar-Trainerstelle beim DBS und erhielt den Zuschlag. Als der Abteilungsleiter für den Para-Bogensport im DBS schwer erkrankte, übernahm ich noch im selben Jahr nach einer Wahl auch diese Funktion. Als dann im Jahre 2004 der Cheftrainer für den Para-Bogensport wegen einer Erkrankung ausfiel, bewarb ich mich auf diese Stelle. Da die Statuten des DBS vorsehen, dass die beiden Spitzenpositionen des Abteilungsleiters und des Cheftrainers nicht von einer Person bekleidet werden können, wechselte ich in die Position des stellvertretenden Abteilungsleiters und wurde der Cheftrainer. Im Jahr 2010 gab ich die Stelle des Cheftrainers ab und wurde 2013 wiedergewählt zum Abteilungsleiter für den Para-Bogensport. Seitdem bin ich in dieser Funktion und wurde im letzten Quartal 2021 für weitere vier Jahre gewählt.

BSM: Im Para-Bogensport fiel bereits 2021 die DM im Freien aus, später auch die DM Halle. Kannst du etwas über die Hintergründe sagen?
Rainer: Der Para-Bogensport ist im DBS eine Disziplin, die ihre Kosten selbst tragen muss. Das bedeutet, dass alle Startgebühren, die bei den Wettkämpfen erhoben werden, zu einem Teil an den DBS abgetreten werden müssen, der andere Teil ist für die Finanzierung der Wettkämpfe bestimmt. Mit dem Beginn der Corona-Krise wurden intensive Hygienemaßnahmen eingefordert, die für den Para-Sport deutlich höher abgesteckt wurden als beispielsweise beim Deutschen Schützenbund. Schon vor der Corona-Krise waren allein durch medizinische Vorsorgemaßnahmen die Kosten für einen Wettkampf höher angesiedelt als beim Deutschen Schützenbund. Letztlich entscheidet beim Para-Sport immer ein Arzt der medizinischen Abteilung des DBS, ob die Maßnahmen ausreichend sind für die Ausrichtung eines Wettkampfes. Die durch die Corona-Auflagen gestiegenen Kosten für zusätzliche Helfer und Hygienematerialien konnten bei der Deutschen Meisterschaft nicht durch die Teilnahmegebühren abgedeckt werden. Die Abteilung Bogensport im DBS sowie die anderen angeschlossenen Sportdisziplinen forderten in den Sitzungen einen Corona-Zuschuss, der nicht bewilligt wurde. Für den Para-Bogensport zeigte sich zudem bei den Videokonferenzen mit den Landesvertretern, dass vielerorts ganz einfach die Trainingsmöglichkeiten für die Para-Bogensportler eingebrochen waren, insbesondere in der Halle. Der überwiegende Teil der Landesvertreter sah hier eine schlechte Voraussetzung für die Ausrichtung einer Deutschen Meisterschaft, da absehbar war, dass die Teilnehmerzahl zu gering sein würde, um die Finanzierung einer Deutschen Meisterschaft abzusichern. Unsere Kalkulation für erhöhte Teilnahmegebühren zur Absicherung des Wettkampfes kam letztlich auf einen Betrag, der keine Akzeptanz gefunden hätte. Daraufhin wurde zum zweiten Mal in Folge die Deutsche Hallenmeisterschaft abgesagt. Aktuell planen wir die Deutsche Meisterschaft im Freien, und wir hoffen, dass sich die Hygienemaßnahmen für den Para-Bogensport lockern, so dass wir den Wettbewerb finanziert bekommen. Die größte Hoffnung ist aber im Moment, dass sich der Sportbetrieb in den Vereinen belebt und die Para-Bogensportler wieder Zugang zu ihren Sportstätten erhalten. Denn nur mit dem Training können sich die Para-Bogensportler dem Wettkampf stellen.

BSM: Ende 2021 verabschiedete sich vorrübergehend der deutsche Para-Bogensport aus dem internationalen Wettkampfgeschehen. Wie kam es dazu?
Rainer: Das ist ein komplexes Thema. Dazu ist zunächst wichtig zu wissen, dass der Para-Bogensport innerhalb der Struktur des DBS eine Trennung zwischen der Abteilung für den Bogensport und dem Nationalteam Bogensport hat. Überschneidungen gibt es hier im Bereich der Nachwuchsfindung. Der Cheftrainer nutzt die Deutschen Meisterschaften als Plattform für die Talentsichtung der Nationalmannschaft. Daraus entwickeln sich Athleten, die international einsetzbar sind. Hier zeigten sich in den letzten Jahren unterschiedliche Auffassungen zwischen dem ehemaligen Cheftrainer Matthias Nagel, der Abteilung Bogensport und den Landesverbänden. Die Anzahl der deutschen Para-Sportler auf internationalen Wettkämpfen wurde reduziert, und daher führten wir schon vor den Paralympischen Spielen in Tokio immer wieder Gespräche mit dem Ziel, auch Nachwuchsathleten Erfahrungen auf internationalen Wettkämpfen zu ermöglichen und hier die Chance zu nutzen, über Teams Medaillen zu erringen. Derartige Erfolge sind grundsätzlich wichtig für Athleten, Trainer, und sie haben einen Einfluss auf die Höhe der Sportförderung für die Disziplin des Para-Bogensports. Auch wenn wir uns unzufrieden zeigten mit der Reduzierung der Athleten im Nationalteam muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Funktion des Cheftrainers zwar um eine Honorarstelle handelt, diese Tätigkeit jedoch in der Regel neben dem eigentlichen Beruf gestemmt werden muss. Das Training und die Wettkämpfe beanspruchen auf der anderen Seite ihre Zeit. Vor den Paralympischen Spielen in Tokio teilten der Cheftrainer sowie der Co-Trainer ihren Rücktritt mit und wir erhielten danach Bewerbungen für die Nachbesetzung der Stellen. Der DBS erwirkte dann in Gesprächen, dass der Cheftrainer sowie der Co-Trainer die Paralympischen Spiele vor ihrem Rücktritt noch betreuten. Der Rücktritt beider Trainer erfolgte schließlich Ende 2021. Wir hatten schon im November 2021 beim DBS beantragt, die Stellen neu auszuschreiben, aber hier gab es bis dato keine Reaktion, so dass die Stellen aktuell noch unbesetzt sind. Es gibt nun erste Überlegungen, ob ein Reset im Para-Bogensport sinnvoll ist, um mit einem Sichtungskoordinator die Talente für die Nationalmannschaft aufzugreifen und der Förderung zuzuleiten. Wir wünschen uns hier motivierte Verstärkung, um mit frischem Wind den Para-Bogensport im Nationalteam zu beleben.

BSM: Die aktuellen Entwicklungen geben Hoffnung, dass mit reduzierten Hygieneauflagen das Hauptaktionsfeld der Para-Bogensportler der Trainingsplatz ist. Wie steht es mit der aktuellen Motivation der Para-Bogensportler in Deutschland?
Rainer: Viele Vereine haben damit zu kämpfen, dass abgesagte Veranstaltungen nicht so einfach wieder in Gang gebracht werden können. Ich vermute auch, dass unsere 150 Starter bei der Deutschen Meisterschaft in diesem Jahr noch nicht wieder erreicht werden können, weil sich so manch einer aus dem Sport zurückgezogen hat. Dieses Phänomen sehen wir aktuell im Rückgang der Mitgliederzahlen. Auch die Ländervertreter sprechen davon, dass die große Masse einfach nicht da ist. Trotzdem gibt es weiterhin Sportbegeisterte und hier kann ich genauere Zahlen über Niedersachsen sagen. Hier verzeichnen wir nämlich einen Anstieg der Vereine und wir sehen auch einen Anstieg bei den aktiven Sportlern. Sollten die Meisterschaften aber auch in diesem Jahr abgesagt werden, würden wir in das zweite Jahr ohne Deutsche Meisterschaft gehen, und das wäre kein gutes Signal. Deswegen muss in diesem Jahr die Meisterschaft gelingen, egal wie der finanzielle Rahmen aussieht. Ich schreibe gerade ein Förderkonzept, um die Finanzierung abzusichern, damit wir das Signal setzen können, dass sich das Training für diesen Wettkampf lohnt. Für die internationalen Wettkämpfe ist es uns nun in Zusammenarbeit mit dem Verband gelungen, eine Realisierung für Selbstzahler zumindest für World Ranking-Wettbewerbe hinzubekommen. Das ist ein äußerst positiver Schritt in die richtige Richtung, so dass ich optimistisch bin, dass wir den Aufbau des Nationalteams vorantreiben können. Meine Hoffnung ist nun, dass wir im nächsten Schritt diese Entwicklung auch für andere internationale Wettkämpfe realisiert bekommen, so dass wir dann auch mit Mixed-Teams und Teams an den Start gehen können und sich dann unsere Medaillenchancen erhöhen.

BSM: Gab es für dich in den zurückliegenden Monaten ein besonderes Highlight im Para-Bogensport?
Rainer: Da ich seit über 20 Jahren in der Funktion des Landestrainers in Niedersachsen stehe, kann ich aus dieser Perspektive positives von den Berlin Open berichten, denn es ist uns mit einem Hygienekonzept zum zweiten Mal in Folge gelungen, hier mit Para-Sportlern aus verschiedenen Nationen an den Start zu kommen. Dank des außerordentlichen Engagements und der Unterstützung von Alfred Grzondziel aus Berlin gelang es sogar, Finalmatches bei diesem Hallenwettkampf zu realisieren. Darüber haben wir uns wirklich gefreut und sind mit dem Landeskader Niedersachsen angereist. Im Recurvewettbewerb konnten wir mit unseren Sportlern Gold, Silber und Bronze gewinnen. Das war für uns ein großartiger Erfolg und hat uns Auftrieb gegeben. Wichtig ist aber auch der Blick in die Zukunft des Para-Bogensports in Deutschland, und da wünsche ich mir einfach frischem Wind für unseren künftigen Gestaltungsprozess. Vieles hängt vom Engagement einzelner ab. Insofern erhoffe ich mir motivierte Menschen, die auf uns zukommen und gemeinsam mit uns Visionen entwickeln, um den Para-Bogensport Schritt für Schritt in eine gute Zukunft zu lenken. Dazu zählt sicher auch die Besetzung der aktuell unbesetzten Cheftrainerstellen.

BSM: Herzlichen Dank für den Einblick in den Para-Bogensport und wir wünschen dir und allen Para-Bogensportlern eine gute Entwicklung für diese so wichtigen Disziplin.

Weitere Informationen und Kontakte zum Para-Bogensport in Deutschland finden Sie im Internet unter www.dbs-bogensport.de

„Der Krieg ist allgegenwärtig“

Von Stefan Kech

Nach dem Überfall Russlands auf ihr Land war Dauchingen im Schwarzwald-Baar-Kreis ein Ort der Sicherheit für die ukrainische Nationalmannschaft im Bogenschießen. Nun wird ein Teil der Sportler zurückbeordert.

Die Bilder nehmen kein Ende. Jeder Tag fördert neue Horrornachrichten über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zutage. Dieser Schrecken lässt niemanden unberührt, der auch nur über einen Hauch von Empathie verfügt. Das Leiden der Menschen in diesem überfallenen Land scheint immer unfassbarere Dimensionen anzunehmen und lässt sich aus der Distanz nur erahnen.

Diese Distanz hat die ukrainische Nationalmannschaft nicht, die nun seit mehr als drei Monaten in Dauchingen ein Refugium gefunden hat. „Schauen sie hier“, sagt einer der Bogenschützen und hält einem sein Handy hin, nachdem er zuvor im Internet eine der vielen Quellen angeklickt hat. Es sind furchtbare Aufnahmen zu sehen, und sie könnten nicht aktueller sein. Gerade hat Russlands Artillerie erneut ein ziviles Ziel beschossen, die Meldungen werden am Donnerstag die Nachrichten über den Krieg bestimmen.

In der Stadt Winnyzja sollen bei Angriffen mindestens 23 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt worden sein, als dort im Zentrum ein Bürogebäude getroffen wurde. Die Stadt liegt im Westen des Landes und damit mehrere hundert Kilometer von der eigentlichen Frontlinie entfernt. Nicht nur Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach einmal mehr von einem „offenen Akt des Terrorismus“ durch die russische Armee.

Der junge Mann steckt sein Handy wieder in die Tasche, seine Augen blicken rat- und fassungslos in die Ferne. Und eines wird dabei deutlich: Die Sportler und Sportlerinnen, der Betreuerstab und die Familienangehörigen sind in Dauchingen zwar geografisch weit von diesen Gräueln entfernt, doch emotional mittendrin.

Nun wird diese räumliche Distanz ebenfalls schon bald der Vergangenheit angehören – zumindest für einen Teil von ihnen. Denn als Sportsoldaten haben sie den Einberufungsbescheid erhalten und müssen bis spätestens zum 31. Juli in die Ukraine zurückkehren.

Auch wenn mit einem solchen Beschluss zu rechnen war, ist dies für alle ein einschneidendes Ereignis. Auch für Andreas Lorenz. In den vergangenen Wochen war er Organisator, Ansprechpartner, Möglichmacher – ja man könnte ihn fast schon als eine Art „Herbergsvater“ bezeichnen. Die Firma Beiter, deren Verkaufsleiter er ist, bot den Sportlern ideale Bedingungen, um weit ab der Heimat trainieren und sich auf die Wettkämpfe vorbereiten zu können.

Herr Lorenz, seit unserem letzten Treffen sind schon wieder einige Wochen vergangen, was hat sich in dieser Zeit getan? Andreas Lorenz: Aus rein sportlicher Sicht gab es zwei Großereignisse, zum einen die Europameisterschaft in München und dann noch den Weltcup in Paris.

Und an beiden Wettkämpfen nahm das ukrainische Team teil? Ja. Die Männer verpassten mit Platz vier bei der EM die Medaillen nur hauchdünn. Auch das Mixed-Team wurde Vierter. Die Frauen landeten nicht so weit vorn, allerdings zeigte sich, dass die Sportler ihr Niveau halten konnten.

Dank der Trainingsmöglichkeiten, die Sie und die Firma Beiter der ukrainischen Mannschat in den vergangenen Monaten geboten haben. Doch damit wird nun wohl Schluss sein . . .  Ja, Bis zum 31. Juli müssen sich die Männer beim Sportministerium in der Ukraine gemeldet haben.

Das heißt, sie müssen Deutschland verlassen? So ist es. Sie sind Sportsoldaten, und Präsident Selenskyj plant, insgesamt 300 000 Personen einzuberufen. Und da die Saison im Bogensport vorbei ist, befinden sich die Schützen also nicht mehr in der Rolle des Sportbotschafters für ihr Land.

Müssen nur die Männer gehen? Ja, die Frauen hatten teilweise die Wahl, weil sie nicht direkt beim Militär, sondern in anderen Einrichtungen wie beispielsweise dem Grenzschutz angestellt sind. Aber von fünf Frauen werden vier in die Ukraine zurückkehren.

Warum? Neben dem Pflichtgefühl und der großen Verbundenheit zum eigenen Land sind es auch persönliche Gründe, die sie dazu veranlassen. Wenn sie hier bleiben, wissen sie nicht, ob sie ihre Männer noch einmal wiedersehen. In der Ukraine dürfen diese immerhin nach einer gewissen Dienstzeit in den Heimaturlaub. Eine Schützin kehrt mit ihrem vierjährigen Kind zurück, damit es endlich einmal wieder seinen Vater sieht. Und es leben eben auch alle Freunde und vielen Verwandten dort.

Wie viele kehren in die Ukraine zurück? Von den 25 Personen werden 14 gehen.

Wer bleibt? Eben all jene, die nicht Teil des Militärs sind, darunter eine Familie mit ihren zwei Kindern sowie Opa und Oma. Polina Rodionova bleibt als einzige Schützin hier, sie wird übrigens künftig in der Bundesliga für den Bogenclub VS an den Start gehen – als Welt- und Europameisterin. Polina kam mit ihrer Mutter, der Kampfrichterin Natalia Radionova, im Auto über Polen nach Dauchingen und erlebte die Kämpfe im Osten hautnah.

Kein Wunder, dass sie bei der aktuellen Lage hier bleiben will. Es gibt da tatsächlich einen Zusammenhang: Wer im Osten der Ukraine lebte und die Auswirkungen des Krieges mit eigenen Augen gesehen hat, der bleibt. All jene, die im Westen des Landes beheimatet sind, gehen zurück. Dort ist noch ein, wenngleich unter Einschränkungen, weitgehend normales Leben möglich. Im September sind hier sogar ukrainische Meisterschaften im Bogenschießen geplant.

Wie ist die Stimmung angesichts dieser neuen Situation? Es ist schon zu spüren, dass viele schweren Herzens gehen. Nach anfänglichem Zögern hatten sie sich doch mit dem Gedanken angefreundet, längerfristig hierzubleiben. Sie haben sich gut integriert und wurden ebenso gut von den Dauchingern aufgenommen.

Die Ukrainer blieben also nicht immer nur unter sich? Nein, wir haben viele schöne Momente gemeinsam erlebt. Bei einem Grillabend sah man, wie alle das Elend in der Heimat zumindest für einen kurzen Moment vergessen konnten. Beim Nationalfeiertag im Mai zogen sie sogar ihre Trachten an. Auch bei der Kulturnacht in Schwenningen waren sie auf Einladung des Lions Club Schwenningen dabei. Aber die Sehnsucht und Sorge nach und um die Heimat blieb und bleibt allgegenwärtig.

Woran machen Sie das fest? Sie alle sind ständig in den sozialen Medien und stehen mit Freunden und Verwandten in der Ukraine in Kontakt. Der Krieg ist allgegenwärtig.

Wie ist Ihre Gefühlslage, wenn nun ein Teil der ukrainischen Bogensportfamilie wieder geht? Wir sind tatsächlich wie eine Familie, ich kenne einige schon seit vielen Jahren, und die Kontakte werden bestehen bleiben. Es ist schon Wehmut dabei, aber ebenso ein gewisser Grad an Erleichterung, denn die zeitliche Beanspruchung war enorm.

Wurden Sie bei der Entscheidung, zu gehen oder hier zu bleiben, um Rat gefragt? Nein, und ich hätte auch keinen gegeben. Diese Verantwortung hätte ich niemals auf mich nehmen wollen. Stellen Sie sich vor, ich hätte zu einem der Schützen gesagt, du musst in die Ukraine zurück und dann vier Monate später von seinem Tod erfahren. Und wenn ich ihm geraten hätte, als Sportsoldat in Deutschland zu bleiben, wäre ihm als Deserteur die Rückkehr in sein Land nicht mehr möglich gewesen. Diese schwere Entscheidung muss jeder für sich treffen.

Wie geht es für die Menschen weiter, die bleiben? Sie wollen sich integrieren und so schnell wie möglich so selbständig wie möglich leben. Der Weg dahin führt nur über die Sprache, und so wird der Lions Club weiterhin die Sprachkurse finanzieren. Die sieben und 14 Jahre alten Kinder jener Familie, die hier bleibt, sind bereits für das kommende Schuljahr angemeldet.

Wie sieht es auf beruflicher Ebene aus? Die Menschen wollen hier arbeiten, das gehört für sie auch zum Selbstwertgefühl. Sie schätzen die Möglichkeiten, die Deutschland ihnen bietet. Eine Frau hat bereits einen 450-Euro- Job angenommen. Selbst wenn ihr dieser Verdienst auf die Unterstützung angerechnet wird und am Ende nur wenig davon im Geldbeutel bleibt. Darin sehe ich generell ein Problem, nicht nur bei den Flüchtlingen aus der Ukraine oder aus anderen Ländern. Der Anreiz, eine schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen, ist angesichts der staatlichen Alimentierung oftmals nicht allzu ausgeprägt.

Glauben Sie, dass manch einer für immer in Deutschland bleibt? Eher nicht. Ich gehe davon aus, dass nach dem Ende des Krieges alle wieder in die Ukraine wollen. Dort können sie in ihren erlernten Berufen arbeiten und beim Wiederaufbau mithelfen.

Wird es eine offiziellen Abschied geben? Die Dankbarkeit der Schützen ist sehr groß. Daher wollen sie etwas Dauerhaftes in Dauchingen hinterlassen. Mehr möchte ich nicht verraten.

Ein Artikel aus der Südwest Presse / Die Neckarquelle Villingen-Schwenningen vom 16. Juli 2022