04.01.2023

Anlauf gegen Gewalt – unabhängige Anlaufstelle bei Gewalt und Missbrauch im Spitzensport

Leseprobe aus dem BOGENSPORT MAGAZIN 6/2022 – von Anna Lena Gangluff

„Ich finde es eine sehr gute Initiative, weil ich jede Art von Gewalt als ein absolutes No-Go empfinde. Sowohl im Sport als auch im Leben nebenbei“, sagt Elisa Tartler, eine der bekanntesten deutschen Bogensportlerinnen. Sie selbst ist Unterstützerin der Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“, die am 16. Mai dieses Jahres vom Verein Athleten Deutschland offiziell in Betrieb genommen wurde.

Hier finden Leistungssportler und -innen Hilfe, Beratung und Unterstützung, wenn sie Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch im Sportbereich gemacht haben. Nicht nur aktive Kaderathleten können auf das Angebot zurückgreifen, sondern auch ehemalige. Dabei werden Betroffenen verschiedene Möglichkeiten geboten, Hilfe zu finden.

Einmal wird eine anonyme telefonische Fachberatung geboten. Der telefonische Erstkontakt findet mit Fachkräften des Vereins N.I.N.A. statt, die auch Träger des bundesweiten “Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch” sind. Das N.I.N.A.-Team wurde extra mit der Lebenswelt der Bundeskaderathletinnen und -athleten vertraut gemacht und für die Besonderheiten des Spitzensports sensibilisiert.

Neben der telefonischen Hilfe können Betroffene sich auch schriftlich melden. Gitta Axmann und Nadine Dobler sind hier die direkten Ansprechpartnerinnen. Beide sind Expertinnen für sexualisierte, psychische und physische Gewalt und stehen darüber hinaus für eine längere Begleitung Betroffener zur Verfügung.

Als drittes haben Betroffenen die Möglichkeit, eine rechtliche und/oder psychotherapeutische Erstberatung zu beanspruchen. Die Kanzleien Ladenburger und Lörsch führen die rechtliche Beratung durch. Beide Kanzleien können eine langjährige Erfahrung in der Beratung von Betroffenen vorweisen. Dr. Anne Boos ist psychologische Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Ansprechpartnerin für die psychotherapeutische Unterstützung. Über die Netzwerke MentalGestärkt und „Athletes in Mind“ können bei Bedarf weitere Therapeuten aktiviert und damit sogar wohnortnahe psychologische oder psychotherapeutische Betreuungsangebote vermittelt werden. Falls betroffene Athletinnen es ausdrücklich wünschen, kann Athleten Deutschland Kontakt zu den betreffenden Verbänden herstellen. Dabei werden die entsprechenden Verbände über die Vorfälle informiert, sodass auch von Verbandsseite Unterstützung gewährleistet werden kann.

Elisa Tartler erzählt darüber hinaus, dass sie selbst durch Athleten Deutschland darauf aufmerksam geworden ist. „Ich bin nämlich Mitglied und bekomme somit noch vor der Veröffentlichung Bescheid“, erläutert sie.

Im Jahr 2017 gründete man Athleten Deutschland mit dem klaren Ziel, Athletinnen und Athleten, die für Deutschland an den Start gehen, ein Mitspracherecht zu ermöglichen. Man wollte ihnen allen erstmals eine Stimme geben, die wirklich gehört werden sollte. Um dies zu erreichen, setzt sich der Verein, der vom Bundesinnenministerium aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages finanziell gefördert wird, als Hauptaufgabe, grundlegende Veränderungen im Sportsystem auf nationaler und internationaler Ebene durchzusetzen. Dabei stehen vor allem die Athletinnen selbst im Mittelpunkt. Es geht darum, sie zu schützen, ihnen ihre Perspektiven aufzuzeigen sowie ihnen eine effektive Mitbestimmung zu ermöglichen. So beschreiben Sprecher von Athleten Deutschland selbst: „Gemeinsam mit unseren Mitgliedern kämpfen wir für weltbeste Rahmenbedingungen, die ihnen die Möglichkeit bieten, ihre sportlichen und persönlichen Potenziale zu entfalten. Wir treten ein für fairen und sauberen Sport, frei von Missbrauch und Gewalt, Manipulation und Misswirtschaft. Zur Erfüllung unserer Mission kollaborieren wir mit verschiedenen Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie mit gleichgesinnten Partnern in Europa und der Welt.“

Liebe Leserinnen und Leser, vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum wir über dieses Thema berichten, denn es gab doch keinerlei Vorfälle dieser Art im Bogensport – zumindest keine bekannten. Der deutsche Bogensport ist doch von größeren Skandalen dieser Art bisher verschont geblieben, Gewalt oder Missbrauch in kleinen Bogensportvereinen gibt’s doch gar nicht, denken viele vielleicht. Und in 99 Prozent der Vereine ist das auch wahrscheinlich so. Aber wussten Sie, dass im Jahr 2021 eine Studie namens „Safe Sport“ zu sexualisierter Gewalt im Leistungssport durchgeführt wurde? Dort ergaben sich einige erschreckende Erkenntnisse auf Vereins- und Breitensportebene.

„Der Vereinssport ist genauso wie andere gesellschaftliche Bereiche von Gewalt betroffen. Wir können nicht so tun, als sei der Vereinssport ein belästigungsfreier, diskriminierungsfreier, ja ausschließlich schöner Ort“, sagte vor einem Jahr Bettina Rulofs, eine Sportsoziologin, die selbst an der Studie teilnahm. Von fast 4400 Vereinsmitgliedern, die an der Umfrage teilnahmen, gaben mehr als zwei Drittel an, im Verein mindestens einmal eine Form von sexualisierten Grenzverletzungen, Belästigung und Gewalt erfahren zu haben.

Wenn man sich das Ganze noch genauer anschaut, zeigt sich, dass knapp ein Fünftel im Zusammenhang mit dem Vereinssport ungewollte sexuelle Berührungen oder Handlungen erlebt hat. Ein Viertel der Studienteilnehmer berichtet von anzüglichen Bemerkungen oder unerwünschten Text- oder Bildnachrichten. Auf zehn Personen kamen sechs, die bereits einmal im Vereinssport beschimpft oder sogar bedroht wurden. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Gewalterfahrungen eben nicht nur in anderen gesellschaftlichen Bereichen gemacht werden, sondern eben auch im Sport-Kontext.

Natürlich bedeutet das alles jetzt nicht, dass in jedem Verein Erfahrungen dieser Art gemacht werden. Sogar die Mehrheit der in der Studie Befragten gab an, im Vereinssport positive Erfahrungen gemacht zu haben. Marc Allroggen von der Uniklinik Ulm erläuterte damals: „Sport hat ja viele positive Aspekte, und von daher ist es möglich, dass diese negativen Erfahrungen in Bezug auf die positiven Erfahrungen im Sport deutlich geringer bewertet werden.“

Die Studie ging allerdings noch weiter. Im nächsten Schritt wurden 300 Sportorganisationen, sprich Stadt- und Kreissportbünde sowie Fachverbände, befragt, wie sie mit dem Thema sexualisierter Gewalt im Sport umgingen. „Von den über 300 Sportverbänden, die wir da befragt haben, gaben fast alle an, dass sie die Prävention von Gewalt allgemein, aber insbesondere auch die Prävention von sexualisierter Gewalt für relevant halten“, so Rulofs. Die daraus resultierende Vermutung, dass diese Organisationen diese Haltung bis in ihre Vereine, ihre Basis, trägt, liegt nahe.

Im Jahr 2016 hatte das Team um Rulof und Allroggen bereits sexualisierte Gewalt im Leistungssport untersucht und Zahlen vorgelegt. „Wir können jetzt anhand dieser großen Stichprobe von über 4000 Befragten im Vereinssport sehen, dass solche Gewalterfahrungen, ob sie nun sexualisierte Gewalt betreffen oder auch emotionale Verletzung und Gewalt, in beiden Bereichen vorkommen, also im Breitensport wie im Leistungssport.“ Sie sehen aber ein höheres Vorkommen im Leistungssport.

Wenn man sich diese Ergebnisse vor Augen hält, ist es dann vielleicht nicht schon leichtsinnig, gar naiv, zu denken, dass es so etwas nicht auch im Bogensport geben kann?

Die Ergebnisse der oben genannten Studie gehören zu den ausschlaggebenden Dokumenten, auf die der Verein sich beruft. Genau hier, bei diesen erschreckenden Zahlen, soll die Aktion „Anlauf gegen Gewalt“ ansetzen und für Verbesserung sorgen. Denn es hat sich gezeigt: Hilfe wird benötigt, denn es gibt diese Probleme wirklich. Julia Hollnagel, zuständig für Kommunikation und Marketing im Verband, berichtet dem Bogensport Magazin: „Nach dem Hearing der unabhängigen Aufarbeitungskommission für Kindesmissbrauch haben wir ein Impulspapier für ein unabhängiges Zentrum für Safe Sport verfasst, das Kompetenzen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung haben soll. Unsere Idee für ein unabhängiges Zentrum hat viel Zuspruch von Betroffenen, aus der Politik und aus der Fachpraxis. Seit wir uns öffentlich gegen Gewalt und Missbrauch stark machen, haben uns auch vermehrt Betroffene kontaktiert. Sie berichteten häufig, dass sie zögerten, sich an verbandsinterne Ansprechpersonen zu wenden. Diesen wird eine Nähe zum System, in denen sich die Täter bewegen, zugeschrieben. Als Athletenvertretung war für uns schnell klar, dass wir hier zeitnah ein gutes Angebot auf die Beine stellen möchten, um Betroffenen den oft schwierigen Schritt des Erstkontakts zu erleichtern. Anlauf gegen Gewalt ist somit ein ergänzendes, kein ersetzendes, Angebot für Betroffene von Gewalt und Missbrauch im Spitzensport. Es stellt Wahlfreiheit für die Betroffenen sicher.“ Im Dezember 2021 teilte der Verein mit, dass man mit der Errichtung, dem Aufbau, der Anlaufstelle für von Gewalt und Missbrauch betroffenen Athleten begonnen habe. Besonders viel Wert wurde darauf gelegt, dass den entsprechenden Bundeskaderathleten psychosoziale und rechtliche Erstberatungsangebote ermöglicht werden können. Johannes Herber, Geschäftsführer von Athleten Deutschland, sagte: „Der Austausch mit Betroffenen und unseren Mitgliedern hat uns die dringende Notwendigkeit verbandsunabhängiger Ansprechpersonen und Unterstützungsleistungen vor Augen geführt. Mit der Anlaufstelle wollen wir diese Lücke füllen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe gehen wir jetzt mit großer Sorgfalt an“. Gesagt – getan.

„Anlauf gegen Gewalt wird seit der Inbetriebnahme regelmäßig von Betroffenen kontaktiert“, betonte Hollnagel. Außerdem hat der Verein weitere Pläne für die Zukunft, um den Sport in dieser Hinsicht noch sicherer zu gestalten: „Der nächste große Schritt im Bereich Safe Sport in Deutschland ist die Schaffung eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport. Die Bundesregierung hat die Unterstützung dieses Vorhabens im Koalitionsvertrag verankert. Das Zentrum soll eine unabhängige Instanz sein, die Kompetenzen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung innehat und sich sowohl auf den Breitensport als auch auf den Leistungssport erstreckt. Es soll neutral Untersuchungen durchführen können und über Sanktionsbefugnisse verfügen. Aktuell führen DOSB und dsj einen sport-internen Dialogprozess durch, dessen Ziel eine gemeinsame Haltung des organisierten Sports zur Schaffung eines solchen Zentrums ist.“

Aktuell richtet sich das Angebot von „Anlauf gegen Gewalt“ an Leistungssportlerinnen, sprich alle, die in irgendeiner Form einem Kader (Bezirks-, Landes-, Bundeskader) angehören. Trotzdem können sich natürlich auch Sportlerinnen, die auf Vereinsebene auf Gewalt oder Missbrauch gestoßen sind, melden, niemand wird abgewiesen.

Falls Sie selbst Erfahrungen solcher Art machen mussten, falls Sie jemanden kennen, der diese Erfahrungen machen musste, melden Sie sich! Sie können sich sicher sein, dass Sie damit nicht alleine sind, und finden genau hier die Hilfe, die Sie benötigen.

„Ich hoffe, dass Sportlern, die von irgendeiner Art von Gewalt betroffen sind, geholfen werden kann, und ich finde, selbst wenn man nur einer Person helfen kann, ist das schon ein Gewinn“, sagte Elisa Tartler.

So kannst du die Anlaufstelle „Anlauf gegen Gewalt“ kontaktieren: Telefonisch unter 0800 90 90 444, Sprechzeiten montags von 11-13 und donnerstags von 16-19 Uhr. Schriftlich an kontakt@anlauf-gegen-gewalt.org